Existenzanalyse 1/2009

Das subjektive Erleben von Entfremdung: Messung und Korrelationen

Evgeny Osin

Ergebnisse von empirischen Studien über Entfremdung werden beschrieben, die auf kulturhistorischen und handlungsorien­tier­ten Annäherung an Sinn und an das exis­tenz­analytische Dialog-Modell beruhen. Zwei Versionen des (Russischen) „Subjektive Ent­frem­dungsfrage­bogen“, der auf dem Ent­frem­dungstest von Maddi et al. beruht, wurden an Studenten- und Internetgruppen (N = 901) validiert. In diesem Test zeigten sich negative Korrelationen mit Sinn, Festigkeit (hardiness), Selbst-Bestimmung und anderen subjektiven und psychologischen Wohlbe­find­lich­keits­variablen. Die gefundenen sig­nifikanten alters- und berufsbezogenen Unterschiede in Entfremdung werden diskutiert. Zukünftige Forschungsrichtlinien für soziale und psychologische Aspekte der Entfremdung und existenzanalytische Therapiewirkung auf Entfremdung werden vorgeschlagen.

Schlüsselwörter: Entfremdung, Sinn, Test

Die Frage nach dem Sinn in der Palliativsituation von Krebskranken

Herbert Csef

Krebskranke in der Palliativsituation befinden sich in einer radikal veränderten Wirklichkeit, die sie für Sinnfragen prädestiniert. Die unaufhörlich präsente Lebensbe­droh­ung, die zwischendurch zeitweise verdrängt werden kann, aber nie ganz weicht, ist treffend als Damoklesschwert-Syndrom beschrieben worden. Die Sinnfragen können phänomenologisch in drei Zeitdimensionen veranschaulicht werden: Sinnfragen, die in die Vergangenheit zurückreichen, Sinnfragen der Gegenwart und jene, die auf die Zukunft bezogen sind. In der Psychoonkologie wurden zahlreiche Psychotherapieformen entwickelt, die sich auf den Lebenssinn beziehen (sinnorientierte Psychotherapie). Philosophisch basieren diese Konzepte meist auf der Existenzanalyse und der Logotherapie von Viktor Emil Frankl. Die vertiefte Auseinandersetzung mit Sinnfragen in der Palliativsituation ist für die meisten Krebskranken hilfreich bei der Krankheitsverarbeitung und bei der Sterbebegleitung.

Schlüsselwörter: Existenzanalyse, Krebskranke, Logotherapie, Palliativsituation, Sinnsuche, Sinn-zentrierte Psychotherapie

Warum wir leiden
Verständnis, Umgang und Behandlung von Leiden aus existenzanalytischer Sicht

Alfried Längle

Es leidet die Seele, wenn wir mit Zerstörung konfrontiert sind. Wir leiden, wenn ein Wert oder eine Bedingung für ein gutes Leben verlorengeht. Leiden und Schmerz stellt unser Leben ganz oder teilweise in Frage, bedroht die Liebe zum Leben. – Heilung verlangt Finden der Fähigkeiten und Kräfte der Person, um aus ihren Quellen den zer­störerischen Bereichen und Abgründen der Existenz zu begegnen.

Dabei können wir nicht nur in unterschiedlicher Art, sondern auch an unzähligen Themen und Inhalten leiden. Leiden ist vielfältig im Wie und im Woran. Das Beleuchten seiner Themen macht uns das Leiden verständlicher, das Kennen seiner Inhalte schafft einen existentiellen Zugang zum Umgang mit Leid. So kann auf das Leiden gezielt eingegangen und der Entstehung einer seelischen Störung (z.B. Angst, Depression, Hysterie, Sucht, PTSD) zuvorgekommen werden.

Schlüsselwörter: Existenzanalyse, Grundmotivationen, Logotherapie, Leiden, Schmerz

Sinn – Bedürfnis, Notwendigkeit oder Auftrag?
Eine existenzanalytische Fundierung der Logotherapie

Alfried Längle

Der Frage, warum der Mensch Sinn sucht, wird zunächst aus dem Verständnis der Logotherapie nachgegangen, die diese sowohl in der Endlichkeit, Begrenztheit und Aufge­gebenheit der Existenz als auch im angeborenen Willen zum Sinn verwurzelt sieht. Das Gewissen als Sinnorgan wird als Stimme der Transzendenz ebenso religiös begründet wie der Charakter des Gefragtseins und der Aufgegebenheit der Existenz.

In der Existenzanalyse wird versucht, den trans­zendentalen Bezug des Sinns offen zu lassen und die psychologische Sinnfrage aus der Anthropologie und der Struktur der Existenz abzuleiten: aus dem Verstehen-Wollen des Menschen (Suche nach Zusammenhängen) und dem Werdenscharakter der Existenz. Sinnsuche ist so gesehen Aufsuchen von Entwicklungs- und Werdenspotentialen und Einbettung in bzw. Schaffung von Kontexten.

Anschließend wird ein Überblick über das existenzanalytische Sinnverständnis gegeben: seine konstitutiven Dimensionen und erforderlichen psychologischen Aktivitäten. Das leitet über zu den drei Horizonten von Sinnverständnissen und zu einem breiteren Zugang zu Frankls Einstellungswerten. Mit dem existenzanalytischen Verständnis verlagert sich der Schwerpunkt der Arbeit vom „Trotzdem“ zum „Deshalb“ – was mehr Grundlage für die Erfüllung in der Existenz schaffen kann.

Schlüsselwörter: Existenzanalyse, Glaube, Grundmotivationen, Logotherapie, Sinn

Zwischen sinnlosem Glück und glücklosem Sinn
Zum philosophischen und existentiellem Verhältnis von Glück und Sinn

Emmanuel J. Bauer

Glücklich zu sein ist wohl das tiefste und um­fassendste Verlangen des Menschen. Alles, was wir sind, denken, fühlen und tun, schöpft im Letzten aus dem erhofften Glück seine Dynamik und Orientierung. Aber Glück ist nicht Glück. Glück zu haben ist etwas anderes als glücklich zu sein. Auch wenn Glück nicht das unmittelbare Ergebnis unseres Denkens, Wollens, Planens und Machens sein kann, können wir doch sehr viel beitragen, um die Bedingung der Möglichkeit dafür zu schaffen. Gibt es so etwas wie Talent zum Glück oder eine Kunst des richtigen Lebens? Worauf kommt es an? Das wirkliche Glück des Menschen muss auf jeden Fall etwas eigentümlich Menschliches sein. Es ist gebunden an die Verwirklichung des Tiefsten, Ursprünglichsten und Wahrsten in uns. Zum Glück braucht der Mensch daher auch Sinn, gelingendes Verwirklichen seiner höchsten Möglichkeiten, wodurch die Person zur Erfüllung gelangt. Das Verhältnis von Glück und Sinn erweist sich als komplex und hängt vor allem davon ab, was unter Sinn verstanden wird.

Schlüsselwörter: Aristoteles, Existenzanalyse, Glück, Philosophie, Selbstver­wirk­lichung, Selbstverantwortung, Sinn

Glücks-Suche durch die Jahrhunderte
Der Weg einer menschlichen Sehnsucht im Licht der Existenzanalyse

Astrid Görtz

Die Glücksphilosophie zeigt Wege des abendländischen Menschen auf der Suche nach Glück auf. Dabei werden verschiedene Reduktionismen deutlich, die mit spezifischen existentiellen Themen in Verbindung stehen. Dabei geht es um Dimensionen des subjektiven Erlebens im Sinne eines „existentiellen Wohlbefindens“, die auch empirisch erfasst werden können. Der Vortrag gibt einen kurzen Querschnitt philosophiege­schichtlich bekannter Glückswege wieder und setzt sie mit Dimensionen eines persön­lichkeitspsychologischen Modells zur „existentiellen Lebensqualität“, basierend auf den existentiellen Grundmotivationen in Verbindung.

Schlüsselwörter: existentielle Lebensqua­li­tät, existentielles Wohlbefinden, existentielle Grundmotivationen, Glücksphilo­so­phie

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