Existenzanalyse 2/2010

Zeitschrift ExistenzanalyseEmotionen im psychotherapeutischen Verarbeitungsprozess: aktivieren oder managen?

Lilo Tutsch

Für jeden Verarbeitungsprozess von Eindrücken sind Emotionen von Bedeutung. Die Frage die uns im therapeutischen Prozess beschäftigt ist, wie viel und welche Emotionen dienen der Verarbeitung oder anders formuliert: Wie viel Selbstdistanzierung braucht jemand, um in einen Verarbeitungsprozess zu kommen und nicht nur in eine Wiederholung von Belastendem oder Trau- matischem. Diagnostisch gibt dazu die Copingreaktion wie auch die Ichleistung Aufschluss. Daraus lassen sich unterschiedliche Vorgangsweisen im Verarbeitungsprozess ableiten: Eine regressionsfördernde Form, in der die Emotionen „von damals“ wiedererinnert werden und sich aus diesem Erinnern und Wiedererleben eine Stellungnahme anstatt der Copingreaktion entwickeln kann. Diese Vorgangsweise erfordert eine Ichstruktur zumindest auf neurotischer Organisationsebene. Bei schweren Belastungen, Traumata bzw. schwächerer Ichstruktur ist ein höheres Ausmaß an Selbstdistanzierung indiziert, damit das Ich nicht überflutet wird und der Betroffene quasi von einem sicheren Ort aus die Belastungen wahrnehmen, erinnern und so zu einer Stellungnahme („Richtigstellung“) kommen kann. Verläuft der Verarbeitungsprozess im ersten Modus durch das Wiedererleben „hindurch“, so werden im zweiten die Emotionen soweit „gemanagt“, dass die Ichleistung intakt bleibt und die Person aus Mitgefühl und Empathie für sich Stellung nehmen kann.

Schlüsselwörter: Copingreaktion, Emotionen, Ichstruktur, Psychotherapeutischer Verarbeitungsprozess, Selbstdistanzierung

Emotionen aus Sicht der Psychologie

Astrid Görtz

Die akademische Psychologie kennt verschiedene Ansätze zur Erklärung von Emotionen, die jeweils in unterschiedliche Klassifikationen von Emotionen münden. Dabei ist unter anderem von Basis-Emotionen die Rede. Der Artikel gibt einen Überblick über die wichtigsten Emotionstheorien wie etwa verhaltenstheoretische, evolutionsbiologische und neuropsychologische Modelle sowie deren zentrale Fragestellungen. Eine abschließende erkenntnistheoretische Betrachtung in Hinblick auf die psychotherapeutische Umsetzung des Theoriewissens unter Bezug auf die existenzanalytische Anthropologie rundet den Beitrag ab.

Schlüsselwörter: Behaviourismus, Emotionstheorien, Evolutionsbiologie, Kognitionswissenschaft, Neurowissenschaften

Zur Kulturalität von Emotionen

Birgitt Röttger-Rössler

Das Ziel des Beitrages liegt darin, einen Einblick in die Vielgestaltigkeit kultureller Emotionscodierungen zu geben. Am Beispiel der emotionalen Dimensionen Trauer, romantische Liebe (Verliebtheit) und Scham wird aufgezeigt wie unterschiedlich diese in verschiedenen Kulturen ausgestaltet, gewichtet und mit Bedeutung versehen werden. Kulturen, so wird argumentiert, modellieren die menschliche Emotionalität nicht nur oberflächlich auf der Ebene sozialer Ausdruckskonventionen, sondern bis hinein in die Bereiche der subjektiven Wahrnehmung: Kulturelle Emotionsmodelle geben die Parameter vor, mittels derer ein Mensch seine Empfindungen als distinkte Emotionen wahrnehmen, einordnen, interpretieren und sich selbst sowie anderen erklären kann. Sie definieren, was als emotionale Kompetenz respektive Inkompetenz anzusehen ist.

Schlüsselwörter: Emotionsforschung, Ethnologie, Liebe, Scham, Trauer

Illusion Freiheit? Wieviel Spielraum bleibt in einer naturgesetzlich bestimmten Welt?

Michael Pauen

Obwohl selten bestritten worden ist, dass Emotionen einen gewissen Einfluss auf menschliches Handeln und Entscheiden haben, zeichnen sich das Ausmaß dieses Einflusses und die genauen Mechanismen, durch die er wirksam wird, erst seit einigen Jahren ab. Mit verantwortlich dafür ist eine Reihe neuer Untersuchungsmethoden, insbesondere die so genannten bildgebenden Verfahren. Während ursprünglich angenommen wurde, dass Emotionen eher ein Hindernis für wirklich rationale Entscheidungen darstellen, gibt es nunmehr wichtige Belege dafür, dass rationale Entscheidungen und Überlegungen durch Emotionen gefördert werden. Einer der Gründe für die lang andauernde Unterschätzung von Emotionen dürfte darin zu suchen sein, dass sie häufig unterhalb der Bewusstseinsschwelle bleiben.

Schlüsselwörter: Emotion, Entscheidung, Freiheit, Wille

Den ganzen Tag hat es mich verfolgt Gefühle im Traum am Tag verstehen

Susanne Jaeger-Gerlach

In der Existenziellen Traumarbeit fragen wir nach den phänomenologischen Bedeutungen der Trauminhalte und den biografischen Hintergründen des Träumers. Als Schlüssel zum Verstehen der Traumbilder dienen u.a. die Gefühle der TräumerInnen – sowohl die den Traum begleitenden Gefühle, als auch beim Aufwachen oder später beim eventuellen Aufschreiben oder Erzählen des Traumes.

An einem Beispiel aus der Praxis zeige ich in diesem Vortrag, welche existenzielle Bedeutung die Aufnahme, Beachtung und Würdigung dieser Gefühlsspur für die Träumerin haben kann.

Schlüsselwörter: Bewusstsein (Tag-/Nacht), Existenzielle Traumarbeit, Gefühlsspur, Phänomenologie

Sind wir nichts als Gehirn? Das Selbst und sein Gehirn

Georg Northoff

Die Frage nach dem Selbst hat Philosophen und Psychologen schon seit fast 2000 Jahren beschäftigt. Seit kurzem werden auch die empirischen Grundlagen des Selbst in den Neurowissenschaften untersucht. Die genaue Beziehung zwischen diesen verschiedenen Konzepten des Selbst und den diesen zugrundeliegenden neuronalen Mechanismen sind jedoch unklar. Im vorliegenden Beitrag werden (a) eine prozessuale Definition des Selbst in Form der selbst-bezogenen Prozessierung vorgeschlagen, (b) das Selbst durch das phänomenale Erleben der Beziehung zwischen Umwelt und Organismus definiert, und (c) eine Metaanalyse von bisherigen Studien zum Selbst in der funktionellen Bildgebung dargestellt.

Zusammenfassend kommt der vorliegende Beitrag zu dem Schluss, dass das Selbst-Bezogene Prozessing mit der neuronalen Aktivität in den medialen Regionen unseres Gehirns, den sogenannten kortikalen Midline-Strukturen zusammenhängen könnte. Dieses hat nicht nur profunde Implikationen für das Konzept des Selbst und eine zukünftige Neurowissenschaft des Selbst-Bezogenen Prozessing, sondern auch für psychiatrische Erkrankung, zum Beispiel die Depression und die Schizophrenie, wo Störungen des Selbst und der Organismus-Umwelt-Beziehung vom Patienten erlebt werden.

Schlüsselwörter: Depression, Neurowissenschaft, Selbst

Zur Bedeutung der Psychodynamik in der existenzanalytischen Psychotherapie

Christoph Kolbe

Es wird der Stellenwert von Psychodynamik in ihrer Aufgabe für die Gestaltung der Existenz dargelegt: Welche Bedeutung hat Psychodynamik im Lichte personal-existentieller Strebungen und Haltungen? Die Ausführungen verstehen sich aus der Perspektive der Weiterentwicklung des Franklschen Ansatzes im Verständnis der GLE. Insbesondere werden anthropologische und psycho- therapeutisch-beraterische Gesichtspunkte reflektiert.

Schlüsselwörter: Abwehrmechanismen, Emotionen, Existenzanalyse, Methodik, Person, Psyche, Psychodynamik

Emotionen in der Therapie von schweren Persönlichkeitsstörungen

Doris Fischer-Danzinger

Therapien mit Patienten, die an schweren Persönlichkeitsstörungen leiden, stellen spezifische Anforderungen an den Therapeuten. Besondere Herausforderungen betreffen die Intensität der Emotionen, das Agieren als Ausdruck der fehlenden Stellungnahme und das Phänomen der „Projektiven Identifizierung“. Die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, können dazu führen, dass der Therapeut in die Dynamik des Patienten hineingezogen wird und den nötigen Abstand verliert, um über das, was gerade in der Therapie geschieht, reflektieren zu können. Klare Vereinbarungen am Beginn dieser Therapien können einen Rahmen schaffen, sich in Phasen des meist emotional hoch aufgeladenen Prozesses auf einen sicheren Halt rückbesinnen zu können.

Schlüsselwörter: Agieren, Emotionen, Identifizierung, Persönlichkeitsstörung, Rahmenbedingungen

Gefühle – erwachtes Leben Zur Begründung und Praxis der existenzanalytischen Emotionstheorie

Alfried Längle

Emotionen stellen einen zentralen Lebensinhalt dar. Sie spielen im Alltag eine große Rolle und werden üblicherweise auch aktiv gesucht. Eine existentielle Sichtweise verdeutlicht ihren Zusammenhang mit dem Leben und ihren Stellenwert in der Existenz. Demnach haben Gefühle ihre Bedeutung als Wahrnehmung von Objekten in ihrer Relevanz für das eigene Leben. Zum besseren Verständnis von Gefühlen werden drei Aspekte der Entstehung von Gefühlen dargestellt: der Prozeß des individuellen Fühlens, die Funktion der Mutter-Kind-Interaktion und die Eigenaktivität der Zuwendung, deren Zusammenhang mit den Grundfunktionen der zweiten existentiellen Grundmotivation ausgeführt wird. Ein weiterer Aspekt der Bedeutsamkeit der Gefühle wird an ihrer Beteiligung bei Handlungen veranschaulicht. Die praktische Arbeit mithilfe der Zuwendung und der phänomenologischen Haltung wird vermittels zweier Beispiele ausgeführt. Im einen Fall bestand eine Gefühlsblockade, im anderen eine fehlende Kontrollierbarkeit sich aufdrängender Gefühle. In beiden Fällen lagen auch Ängste vor den Gefühlen vor.

Schlüsselwörter: Affekt, Emotion, Gefühl, phänomenologische Haltung, Zuwendung

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