Existenzanalyse 1/2022
Ausgabe 1/2022
EXISTENZANALYSE MIT DEM KÖRPER –
EREIGNIS UND ANVERWANDLUNG
EXISTANZIELLES GROUNDING ALS EXISTENZANALYTISCH-
KÖRPERPSYCHOTHERAPEUTISCHER ZUGANG
MARKUS ANGERMAYR
Eine Psychotherapie ohne Einbezug des Körpers entspricht nicht mehr dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Ein kurzer historischer Rückblick zeigt, wie tief die Abwertung des körperLeiblichen Seins in unserer Gesellschaft reicht. Ergänzend beleuchten wir auch psychotherapiegeschichtliche Hintergründe.
Im Existenziellen Grounding werden die zentralen Begriffe der Existenzanalyse als körperLeibliche Grundbewegungen gefasst und/oder ins KörperLeibliche übersetzt. Vor dem Hintergrund eines leibphänomenologischen Verständnisses des Daseins zeigen sich die eingefleischten Grundstrukturen der Existenz und ihre basale existenzielle Dialogik. Dieser Zugang erweitert und ergänzt die Struktur- und Prozesstheorie der Existenzanalyse und verlagert den anthropologischen Schwerpunkt in Richtung Leibphänomenologie. Anmerkungen zur Anverwandlung und körpertherapeutischen Beziehungs- und Prozessgestaltung runden die Arbeit ab.
Schlüsselwörter: Phänomenologie, Existenzanalyse, Körper, „KörperLeib“, Existenzielles Grounding
SCHMERZ LASS NACH…
EXISTENZANALYTISCHE BEAHNDLUNG BEI PSYCHOSOMATISCHEN ERKRANKUNGEN
RENATE BUKOVSKI
Ausgehend vom 2009 publizierten Verständnis von Alfried Längle zum „Eingefleischten Selbst“ wird die Behandlung von vorwiegend durch somatisches Leiden imponierenden psychischen Erkrankungen beleuchtet. Wesentlich ist dabei der Blick auf alle vier Dimensionen der Existenz. Therapeutische Beziehung, Struktur- und Prozessarbeit bahnen den Weg zum schmerzhaften Geschehen, es wahrzunehmen und sich ihm fühlend zuzuwenden. Es gilt, den phänomenalen Gehalt der wahrgenommenen Beschwerden zu heben, um über die Erarbeitung einer Stellungnahme zu einem neuen Umgang mit sich und dem Leiden zu kommen. Dies und eine mögliche Aufarbeitung existenzverhindernder Erfahrungen dient dem Ziel, den inneren Dialog des Ichs auch mit dem Körper zu verbessern, das Erleben von Im-Körper-Sein wieder zu erlangen und den Existenzvollzug zu stärken.
Schlüsselwörter: Psychosomatik, Körper, Existenzanalytische Behandlung
LEBENDIGES SEIN IST EROTISCHES SEIN – WAS POLYVAGALTHEORIE UND NEUROZEPTION MIT EROTISCHER LEBENDIGKEIT ZU TUN HABEN
DORIS FISCHER-DANZINGER
Alles Lebendige ist immer in Beziehung und durchdringt einander. Als Menschen wollen wir nicht bloß sein – wir sehnen uns nach einem sinnlichen Erleben unseres Lebens. Neurozeption ist ein von Stephen W. Porges geprägter Begriff, der ein „Spüren ohne dessen gewahr zu sein“ beschreibt, ein Erleben, das unterhalb des bewussten Denkens stattfindet. Das heißt, unser Organismus nimmt schon etwas wahr, bevor wir es im Bewusstsein haben, und er reagiert darauf. Im Artikel wird erläutert, wie die Polyvagaltheorie Therapeut:innen helfen kann, zu erkennen, wenn bei Patient:innen die Suche nach Sicherheit und das Bedürfnis nach Verbundenheit miteinander konkurrieren. Denn Sicherheit ist die Basis für unser sinnlich-erotisches Lebendigsein.
Schlüsselwörter: Lebendiges Sein, Sicherheit, Polyvagaltheorie, Neurozeption, autonomes Nervensystem
HAKOMI –
ERFAHRUNGSORIENTIERTE KÖRPERPSYCHOTHERAPIE
EIN SELBSTVERSUCH1
INGO ZIRKS
Hakomi ist eine achtsamkeitsbasierte und erfahrungsorientierte Körpertherapie. Es nutzt die Körperstruktur und -muster, um an das unbewusste Kernmaterial zu gelangen, einschließlich der verborgenen Anschauungen, die unser Leben, Beziehungen und unsere Selbstbilder beeinflussen. Das Hakomi erschließt zügig das Kernmaterial. Die Methode gestattet es, dass die Inhalte sicher ins Bewusstsein treten können. Dann kann es neu bewertet und – wo es passt – tiefgehend transformiert werden. Eine tiefergehende Achtsamkeit und Bewusstheit können integriert werden. Auf diesen Grundlagen aufbauend wird dem Menschen geholfen, ein zufriedeneres und erfolgreicheres Leben zu gestalten. Die Grundzüge sind leicht zu erlernen, das tiefere Durchdringen und das Ausschöpfen des Potentials dieser Therapierichtung bedarf einer intensiven fachlichen Auseinandersetzung und einer begleitenden Persönlichkeitsentwicklung.
Schlüsselwörter: Existenzanalyse, Hakomi, Körperpsychotherapie, Achtsamkeit
DIVERITÄT ZULASSEN:
SEXUELLE IDENTITÄTEN WAHRNEHMEN
UND VERSTEHEN LERNEN ALS HERAUSFORDERUNG
IN PSYCHOTHERAPIE UND BERATUNG
INGO ZIRKS
In diesem Vortrag wird ein kurzer Überblick über das Thema „Sexuelle Identitäten“ gegeben. Zum Konzept Sexuelle Identitäten gehören das Konzept der sexuellen Orientierungen, der sexuellen Neigungen und der Geschlechtsidentitäten. Durch das Auflösen der heteronormen und dichotomen Geschlechtskonstruktion können transidente, intersexuelle und genderfluide Menschen sichtbar werden.
Die phänomenologisch-hermeneutische Psychotherapie hat das Potenzial, das Erleben und die Grundthemen nicht binärer Menschen wahrzunehmen und zu verstehen. Nichtsdestotrotz kann das Nichtwissen oder die Ablehnung von Geschlechterdiversität den Heilungsprozess behindern bzw. Schaden zufügen.
Schlüsselwörter: Existenzanalyse, Psychotherapie, Gender, Sexuelle Identitäten
ACHTSAME KÖRPERWAHRNEHMUNG
MARKUS FELDER
Dieser Artikel soll Inhalte des Workshops „Achtsame Körperwahrnehmung“, der im Rahmen des Herbstsymposiums in Gmunden 2021 stattgefunden hat, wieder ins Gedächtnis rufen.
Schlüsselwörter: Achtsamkeit, Körper-wahrnehmung, Hakomi
ÜBER DAS KINDLICHE KÖRPERBEWUSSTSEIN ZUM AUTHENISCHEN SELBST FINDEN
CHRISTIAN GUTSCHI
Ein Kind drückt seine Emotionen, sein Temperament unmittelbar körperlich aus. Erwachsene brauchen oft jahrelange Psychotherapie, um wieder in ein ursprüngliches „Sich-Spüren“ hineinzukommen. Anhand einer geführten Imaginationsreise zum Kind-Körper suchen wir in uns selbst Antworten auf Fragen: Was ist vom kindlichen Körpergefühl im heute Erwachsenen noch da, was hat sich wie verändert? Und für die Praxis: Wie lassen sich diese Erkenntnisse in der Therapie fruchtbar machen? Über existenzanalytisches Grounding als methodische Basis werden zu dieser Fragestellung drei verschiedene psychotherapeutische Ansätze verbunden.
Schlüsselwörter: Inneres Kind, existenzielles Grounding, Focusing, Körperbewusstsein
SPRECHEN MIT DEM GANZEN KÖRPER
EXISTENZANALYTISCHE BERÜHRUNGSPUNKTE MIT DER STIMMBILDUNG
OLGA BOLGARI, MARKUS ANGERMAYR
Der vorliegende Artikel bezieht sich auf den Workshop „Sprechen mit dem ganzen Körper“, welcher im Rahmen des Herbstsymposiums 2021 in Gmunden gehalten wurde. Die Sprechstimme gehört zu unserem Alltag, sowohl privat als auch beruflich. Wenn wir der Stimme bewusst Halt und Stütze geben, steigern sich die stimmliche Präsenz und die Lebendigkeit des Ausdrucks. Durch das Öffnen der Resonanzräume vertieft sich die Verbundenheit zur eigenen Mitte – das „Durchtönen“ der Person bekommt neue Facetten. Der Schwerpunkt des Workshops war der Verbindung zwischen Stimme und Körper gewidmet und es wurden einige Berührungspunkte mit der Existenzanalyse hervorgehoben.
Schlüsselwörter: Körper, Halt, Raum, Resonanz, Atem, Stimmbildung, Sprechtraining
PSYCHOIMMONOLOGISCHE EFFEKTE VON TECHNIKEN
AUS DEM KOMPLEMENTÄR- UND ALTERNATIVMEDEZINISCHEN (KAM) BEHANDLUNGSSPEKTRUM: ZUSAMMENFASSUNG BISSHERIGER ERGEBNISSE AUS EINER INTEGRATIVEN EINZELFALLSTUDIE AN EINER BRUSTKREBSÜBERLEBENDEN
MICHAELA OTT1, JULIAN HANNEMANN1, MAGDALENA SINGER2, KURT FRITSCHE3,
CHRISTINA BURBAUM3, DIETMAR FUCHS4, CHRISTIAN SCHUBERT5
Diese Arbeit fasst bisher erzielte und veröffentlichte Ergebnisse darüber zusammen, wie sich bei einer Brustkrebsüberlebenden die regelmäßige Anwendung von komplementär- und alternativmedizinischen (KAM)-Interventionen auf den dynamischen Verlauf diverser psychoimmunologischer Variablen unter „life as it is lived“-Bedingungen auswirkt. In einer integrativen Einzelfallstudie sammelte eine 49-jährige Patientin (Diagnose: Duktales Mammakarzinom fünf Jahre vor Beginn der Studie, zum Zeitpunkt der Studie chronisch erschöpft und depressiv verstimmt) ihren gesamten Urin in 12-stündlichen Intervallen (von etwa 08.00 Uhr bis 20.00 Uhr und von etwa 20.00 Uhr bis 08.00 Uhr) über 28 Tage (gesamt 55 konsekutive Harnproben) zur Messung der Konzentrationen der Entzündungsparameter Neopterin (HPLC) und Interleukin-6 (ELISA). Parallel dazu füllte sie ebenfalls in 12-Stunden-Intervallen Fragebögen zur emotionalen Befindlichkeit und zu diversen Variablen des Allgemeinzustands (u.a. Furcht vor einem Krebsrezidiv, Erschöpfung, Alltagsroutine) aus. In wöchentlichen Interviews wurden persönlich bedeutsame Alltagsereignisse einschließlich der KAM-Anwendungen erhoben. Die Zeitreihenanalyse beinhaltete ARIMA-Modellierungen und Kreuzkorrelationsfunktionsanalysen (Signifikanzniveau p < 0.05).
KAM-Techniken, die von der Patientin während der Studie als positiv empfunden wurden (Jin Shin Jyutsu, Musik, Physiotherapie, energetisches Heilen), waren mit biphasischen psycho-immunologischen Reaktionen verbunden: Stimmung und mentale Aktiviertheit stiegen zunächst am Tag der KAM-Intervention an und fielen anschließend nach insgesamt 72–108 bzw. 84–96 Stunden ab. Urin-Neopterin stieg ebenfalls zunächst am Tag der KAM-Anwendung an und fiel dann nach insgesamt 36–48 Stunden ab, während umgekehrt Urin-IL-6 bis zu 12 Stunden vor der KAM-Intervention zunächst abfiel und dann 108–120 Stunden danach anstieg. Ähnliche, teils jedoch nicht signifikante zyklische Verläufe zeigten sich für Gereiztheit und Erschöpfung, während die Furcht vor einem Krebsrezidiv von der KAM-Anwendung nicht beeinflusst wurde. Die zyklischen bzw. biphasischen Verläufe von Neopterin und IL-6 in Reaktion auf die KAM-Anwendungen weisen auf Feedback-Regulationen hin und sind im Sinne der letztlichen Entzündungsverringerung (Neopterinabfall, IL-6-Anstieg) positiv zu werten. Da Entzündung eng mit dem Krebsgeschehen verbunden ist, dürfte die Patientin dieser Studie über die regelmäßige KAM-Ausübung aktiv zu ihrem Heilungsprozess beigetragen haben – ein komplexer biopsychosozialer Vorgang, in dem auch (unbewusste) Bedeutungseffekte („Meaning Response“) eine wesentliche Rolle spielen.
Schlüsselwörter: Psychoneuroimmunologie, Komplementär- und Alternativmedizin, KAM, Brustkrebs, Stress, Entzündung.
VON DER SINNZENTRIETEN BEHANDLUNG
ZUR EXISTENZANALYTISCHEN PSYCHOTHERAPIE
MARKIERUNGEN ZUM UNTERSCHIED VON LOGOTHERAPIE NACH FRANKL UND DER MODERNEN EXISTENZANALYSE1
ALFRIED LÄNGLE
In dieser Arbeit soll das Spezifische der modernen Existenzanalyse herausgestellt werden. Dabei wird deutlich, dass die moderne Existenzanalyse keine Weiterentwicklung der Logotherapie ist, sondern einen eigenständigen, parallelen Neuansatz darstellt, der sich über weite Strecken anhand der Logotherapie und dank ihrer Inhalte entwickeln konnte und von ihr vielfältig befruchtet wurde. Dies wird im Vergleich mit zentralen Inhalten der Logotherapie deutlich, sowohl was die Differenzen anlangt als auch die Gemeinsamkeiten. – Statt der logotherapeutischen Sinnzentrierung steht in der Existenzanalyse die Seinszentrierung mit der phänomenologischen Haltung des Verstehens und des dialogischen Innen- und Außenbezugs. Das Personsein wird als vertrauenswürdiger Letztbezug postuliert, der keiner metaphysischen Absicherung bedarf, ohne eine solche Möglichkeit in einer persönlichen Glaubenshaltung auszuschließen.
Stichworte: Existenzanalyse, Logotherapie, Geschichte, Vergleich, Unterschiede
ZUR ENTSTEHUNG VON PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN AUS EXISTENZANALYTISCHER PERSPEKTIVE
MARTIN KAUFMANN
Dieser Artikel beschäftigt sich mit der pathologischen Ausprägung des Affektes, wie er sich in der Persönlichkeitsstörung zeigt. Es wird die Rolle von Affekten bei der Entstehung und Dynamik von Persönlichkeitsstörungen beschrieben. Es wird gezeigt, dass insbesondere unverarbeitete psychische Schmerzen Ausgangspunkt von Copingreaktionen bei Persönlichkeitsstörungen darstellen. Dies bewirkt eine Spaltung der Selbstintegrität. Zentrale Spaltungs- und Dissoziationsprozesse werden in diesem Artikel ebenso beschrieben wie die zentrale Bedeutung, die das Selbst bei Persönlichkeitsstörungen in der existenzanalytischen Theorie einnimmt.
Schlüsselwörter: Persönlichkeitsstörungen des Selbst, Spaltung der Selbstintegrität, Totstellreflex, Dissoziation, Affektbetrag, Affektisolierung.
ZUHAUSE IST ES EINDACH AM SCHÖNSTEN
EINE EXISTENTIELLE BETRACHTUNG DER WAHRNEHMUNG VON ZUHAUSE DURCH IN WESTEUROPA LEBENDEN AUSLÄNDERN
PETRA KLASTOVÁ PAPPOVÁ
Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit der Thematik von Zuhause, genauer gesagt die nötigen Bedingungen für die Einrichtung eines Zuhauses in einem fremden Land – wie von Ausländern berichtet welche in Westeuropa wohnhaft sind. Ferner gibt er Einblick in die Thematik durch eine Psychotherapeutin, deren Klienten im Ausland leben. Die Stichprobenauswahl beinhaltet 19 Umfrageteilnehmer – Ausländer welche in Belgien, Irland, Schottland und Österreich residieren. Unter Einsatz der incomplete sentence technique, beantworteten die Teilnehmer Fragen zu deren Auffassungen von Zuhause. Die Rückmeldungen wurden verarbeitet mit der Qualitätsanalyse sowie aufgrund der Existentiellen Grundmotivationen von Alfried Längle kategorisiert.
Schlüsselwörter: Wahrnehmung von Zuhause, existentielle Psychotherapie, Existentielle Grundmotivationen von Alfried Längle, Drittkultur-Kind, Qualitative Inhaltsanalyse
Bestellungen bitte per E-Mail an
gle@existenzanalyse.org
Abo-Anmeldung unter
gle@existenzanalyse.org