Existenzanalyse 1/2016

Zeitschrift ExistenzanalyseVERSTEHEN ALS EXISTENZIAL MENSCHLICHEN DASEINS

EMMANUEL J. BAUER

Der Mensch ist nicht einfach vorhanden in seiner Welt, sondern existiert. Als Person steht er in geistig-emotionalem Dialog mit seiner Mit- und Umwelt und mit sich selbst. In seinem Seinsvollzug geht es ihm immer schon in irgendeiner Weise (auch) um sein eigenes Sein. Das bedeutet nach Heidegger, dass der Mensch jenes Wesen ist, das da ist, und dem die Welt durch sein ursprüngliches Geist-, Sprache- und In-Beziehung-Sein erschlossen ist. Sein Wesen liegt daher in seiner Existenz bzw. seiner Ek-sistenz. Das heißt, als geworfenes In-der-Welt-Sein ist das Dasein immer schon angegangen vom Sein und ragt in den Verstehens- und Bedeutungszusammenhang von Welt mit ihrer Unverborgenheit (Wahrheit) und Unergründbarkeit hinein. Dementsprechend ist Dasein geprägt von der Grundverfassung der Sorge und von einer ursprünglichen Erschlossenheit des Seins, die in Befindlichkeit, Verstehen und Rede bzw. Sprache zur Erscheinung kommt. Die Anthropologie der Existenzanalyse setzt beim Menschen als Person an und charakterisiert ihn als ansprechbar, verstehend und antwortend. Diese Struktur kommt in der Methode der Personalen Existenzanalyse (Eindruck/Emotion – Verstehen und Stellungnahme – Ausdruck in Rede und Handlung) zur Anwendung. Auch wenn Heidegger eine Analyse des Daseins als In-der-Welt-Seins auf ontologisch-existenzialer Ebene im Auge hat, während sich die Personale Existenzanalyse primär auf ontisch-existentieller Ebene bewegt, ist die Strukturanalogie zwischen beiden unverkennbar. Eine signifikante Differenz besteht allerdings darin, dass von Heidegger der Mensch zu wenig als Person verstanden und dessen personal-dialogischer Konstitution nicht angemessen Rechnung getragen wird, was sich in einer detaillierten Analyse von Befindlichkeit, Verstehen und Sprache zeigt.

Schlüsselwörter: Erschlossenheit des Daseins, Befindlichkeit, Emotionalität, Verstehen, Stellungnahme, Rede/Sprache, Personale Existenzanalyse

EIN THERAPIE-RÜCKBLICK AUS EXISTENZANALYTISCHER SICHT ALS METHODE DER QUALITATIVEN PSYCHOTHERAPIEFORSCHUNG

ASTRID GÖRTZ

Im folgenden Beitrag soll am Beispiel einer existenzanalytischen Traumatherapie mit einer jungen Erwachsenen aufgezeigt werden, welche Erkenntnisse im Sinne der qualitativen Psychotherapieforschung aus einem gemeinsamen Rückblick in Form eines Dialogs zwischen Therapeut und Klient gewonnen werden können. Im Anschluss wird der Unterschied zum Change Interview nach Elliott herausgearbeitet. Beide Formen der Gesprächsführung werden einander gegenüberstellt, wobei das Original-Transkript in Auszügen wiedergegeben wird. Schließlich wird auf Aspekte der Forschungsethik eingegangen.

Schlüsselwörter: Qualitative Psychotherapieforschung, Outcome-Forschung, Klientenperspektive, Change Interview

PHÄNOMENOLOGISCHE ANALYSE VON VORBILDERN FÜR LEIDERFAHRUNGEN JUGENDLICHER

EKATARINA SVESHNIKOVA

Leiderfahrung im Sinne der Existenzanalyse ist ein Prozess tiefer persönlicher Verarbeitung eines Verlustes von grundlegenden Existenzbedingungen. Bei modernen Jugendlichen, die psychologische Hilfe suchen, zeigt sich oftmals das Vorherrschen psychodynamischer Muster im Umgang mit einem Verlust und das Fehlen persönlicher Verarbeitung einer Leidenssituation. Wir nahmen an, dass dies durch die Tatsache bedingt ist, dass es in ihrer Lebenserfahrung keine nennenswerten Beispiele von persönlicher Leidverarbeitung, an welchen sie sich orientieren könnten, gibt. In der vorliegenden Studie haben wir die Verhaltensmuster bei Leiderfahrungen analysiert, wie sie die Protagonisten populärer Fernsehserien zeigen, die die Jugendliche als ihre Vorbilder (elf männliche und zwölf weibliche) wählen. Als Ergebnis haben wir festgestellt, dass diese Helden in den meisten Fällen in schwierigen Lebenssituationen psychodynamische Verhaltensmuster an den Tag legen. Wir überprüften diese Ergebnisse in der psychotherapeutischen Praxis, indem wir die Leiderfahrungen unserer Klienten mit den bearbeiteten Beispielen verglichen, und fanden das Verhalten ähnlich wie bei den Referenzverhaltensmodellen, was die Teenager davon abhält, sich personal mit dem Thema ihrer Leiderfahrung auseinanderzusetzen.

Schlüsselwörter: Phänomenologische Analyse, Jugendpsychologie, Leiderfahrung, Existenzanalyse

VOM GUTEN ZU VIEL
Aktivismus als schützende Kraft im Kontext von Organisationen

ALEXANDER MILZ

Sich wirklich zu engagieren bedeutet sich mit Leidenschaft einer wertvollen Sache hinzugeben. Das Sinnverständnis der Existenzanalyse basiert auf dieser Intentionalität. Engagement ist aber nicht nur auf Werthaftes hin ausgerichtet, sondern kann auch als aktive Bewegung zur eigenen Entlastung eingesetzt werden. Im existenzanalytischen Verständnis sind dann schützende Kräfte am Werk. Im Kontext der handelnden Person können diese Kräfte inadäquat oder übertrieben zum Ausdruck kommen. Es scheint vom Guten zu viel zu geben. Wird dieses Engagement noch dazu dort geleistet, wo Organisationen ihr eigenes Selbstverständnis verankert haben, können derartige Verhaltensweisen erduldet und legitimiert werden. So entsteht ein dynamischer Zirkel zwischen Person und Organisation, der für alle Beteiligten kräftezehrend ist und sich destabilisierend auswirkt.

Schlüsselwörter: Engagement, Aktivismus, Organisationsdynamik, Veränderungen, Übertreibungsreaktionen, Teufelskreis

DER EXISTENZIELLE ANSATZ IN DER GRUPPENDYNAMIK

RAIMUND STEINBACHER

Systemtheoretisch orientierte Autoren fanden eine kreative Spannung in Gruppen, die der existenziellen Dynamik sehr nahe kommt. Der Aufsatz beschäftigt sich damit welche Bedingungen in einer Gruppe erfüllt sein müssen, damit sich das Motivationssystem der Gruppe positiv auf die Grundmotivationen der Mitglieder auswirkt. Ist die Gruppenenergie schwach, besteht für die Gruppenmitglieder die Gefahr einer Erschöpfungsdepression. Wird das Motivationssystem der Gruppe durch Copingreaktionen ihrer Mitglieder gestört, besteht für die Gruppe die Gefahr der emotionalen Instabilität. Psychodynamik tritt in Gruppen vor allem dann auf, wenn die existenzielle Dynamik blockiert ist.

Schlüsselwörter: Existenzielle Dynamik, Grundmotivationen, Psychodynamik, Copingreaktionen, System

EXISTENZIELLE KOMMUNIKATION
Zugänge zum Wesentlichen in Beratung und Therapie

CHRISTOPH KOLBE

Existenzanalyse findet von ihrer Methodik her im Gespräch statt. Sie fokussiert die existenzielle Relevanz eines Themas, eines Erlebens oder einer Lebenssituation für einen Menschen, um ein Sich-Verstehen oder eine Klärung zu ermöglichen. Gesprächsführung bedeutet in diesem Sinne also ein aktives Zugehen des Gesprächsführenden auf das, was hinsichtlich des Erlebten für den jeweiligen Menschen von Bedeutung ist und worum es ihm darum im Grunde geht, so dass ihm authentische Antworten auf diese Aspekte möglich werden.
Wesentliche Bedingungen für existenzielle Kommunikation werden dargelegt: das Erleben, das Bewegende und der Bedeutungsgehalt. Es werden Schritte beschrieben, wie Wesentliches in einem phänomenologischen Prozess erfasst werden kann. Und es wird gezeigt, wie dieses durch Anfragen erschlossen werden kann bei gleichzeitiger Wahrung einer Haltung der Offenheit, ohne Zielvorgaben, Deutung oder Suggestion.

Schlüsselwörter: Kommunikation, Dialog, Gesprächsführung, Phänomenologie

GESTIMMTES VERSTEHEN
Da-sein als Befindlichkeit

HELMUT DORRA

Stimmung, Befindlichkeit, Gemüt – verschiedene Begriffe bezeichnen eine emotionale Grundverfassung oder einen dauerhaften Gefühlszustand, der unser Erleben und Handeln räsoniert, wie z.B. die Stimmung der Traurigkeit oder Heiterkeit, der Angst oder Verzweiflung.
In unserem Gestimmtsein bekundet sich primär die Qualität unseres aktuellen In-der-Welt-Seins. Unsere Grundgestimmtheit wie auch eine gegenwärtige Stimmungslage wirken sich aus auf die Art und Weise, wie wir die Welt erleben, wie wir auf sie zugehen oder uns vor ihr verschließen.

Schlüsselwörter: Verstehen, Emotion (Gestimmtheit), Existenz, Angst

WIDERSTAND – EXISTENZANALYTISCH BETRACHTET

BRIGITTA MÜHLBACHER

In der Psychotherapie hat „Widerstand“ je nach Psychotherapierichtung eine unterschiedliche Bedeutung und einen dementsprechenden Stellenwert. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Phänomen Widerstand aus existenzanalytischer Perspektive und zwar nicht nur in der Psychotherapie, sondern als ein grundlegendes Element in unserer Welt. Anhand der existenzanalytischen Grundlagen wird Widerstand in seiner spezifischen Funktion dargestellt, wie auch seine problematische Seite aufgezeigt, um diese Fähigkeit umfassend begreifbar zu machen.

Schlüsselwörter: Widerstand, Existenzanalyse, Dialog

SCHWIERIGE THERAPIEVERLÄUFE MIT SEXSÜCHTIGEN PATIENTEN
Scheitern als Möglichkeit und personales Können in der existenzanalytischen Psychotherapie

INGO ZIRKS

In diesem Artikel wird Sexualität zunächst als ein Phänomen beschrieben, das zum Menschsein im biologischen, psychologischen und personal-existentiellen Sinne dazugehört. Dann wird die diagnostische Zuordnung der Sexsucht diskutiert und als Hypersexualität definiert, die der psychotherapeutischen Behandlung bedarf. Drei Fallvignetten und ein ausführlicher Therapieverlauf werden beschrieben. Zum Schluss wird das Nicht-Gelingen und Scheitern als eine Situation gewürdigt, die eine personale Antwort im Aushalten des Scheiterns erfordert. Aushalten wird existenzanalytisch als Können wahrgenommen.

Schlüsselwörter: Existenzanalyse, Sexsucht, Hypersexualität, Rückfall, Therapieergebnisse

DAS PHÄNOMEN DES VERZEIHENS UND SEIN ORT IN DER THERAPIE

DANA KRAUSOVÀ

Verzeihen ist ein Einstellungswert. Diese Werte sind nach Frankl genauso wie die schöpferischen und die Erlebniswerte Ausdruck der spezifisch humanen Dimension, der Person. Verzeihen ist eine Auseinandersetzung, deren Prozess vom Bergen der Erfahrung und primären Emotion, über das Verstehen von sich und anderen, zur Wertfindung und der gewissenhafte Auseinandersetzung in einer personalen Haltung führt. Dies ermöglicht als Ergebnis eine Beziehungsrevision zu sich und dem Anderen, wobei in der erneuerten Beziehung zu sich und zur Schuld ein Loslassen von Forderungen möglich wird. Diese Offenheit löst sich von Zuschreibungen von Gut und Böse, führt in eine reife Realitätswahrnehmung, die in freier Entschiedenheit bereit ist Verantwortung für einen gefundenen Wert zu tragen. Darin erweist sich die Sinnhaftigkeit von Verzeihen.

Schlüsselwörter: Verzeihen, Verstehen, Wert, Einstellung/Haltung, Entscheidung, Freiheit, Sinn

FALL OLGA
Remission nach Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen

IRINA ANDREEVA-CHADAEVA, IRINA EFIMOVA

Abhängige von psychoaktiven Substanzen zeigen häufig im Kern Defizite in der 2. und 3. Grundmotivation. An einem Beispiel wird der spezifische Verlauf einer langwierigen Remission veranschaulicht.

Stichworte: Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen, Grundmotivationen, Wille, Grundwert, Selbstwert

DAGOBERT DUCK
Literarisches Beispiel einer paraexistentiellen Persönlichkeitsstörung?

BARBARA GAWEL

Als eine der weltweit bekanntesten Comicfiguren ist Dagobert Duck Kindern wie Erwachsenen gleichermaßen ein Begriff. Die geizige Ente mit Backenbart, Zylinder, rotem Gehrock und Gamaschen, die nur ein Ziel im Leben hat – die reichste Ente der Welt zu sein.
Dieser Artikel stellt einen Abgleich dar zwischen der Figur des Dagobert Duck und jenen Eigenschaften und Symptomen, die Furnica als die paraexistentielle Persönlichkeitsstörung beschrieben hat. Dies erfolgt auf Ebene der vier existentiellen Grundmotivationen und der Persönlichkeitsstörungen.

Schlüsselwörter: Paraexistentielle Persönlichkeitsstörung, Dagobert Duck, existentielle Grundmotivationen, Persönlichkeitsstörungen

WENN MIR DER PATIENT SO FREMD IST UND ICH SO ANDERS BIN – KANN DA BEGEGNUNG GELINGEN?

AARON SCHAWALDER

Der vorliegende Artikel handelt vom Erleben von Fremdheit und Andersheit im Umgang mit unseren Patienten. Im Versuch einer knappen phänomenologischen Annäherung und Bezugnahme zur existenzanalytischen Basisliteratur wird das Thema zunächst allgemein beleuchtet. Anschließend wird es anhand eines konkreten Patientenbeispiels überprüft und vertieft. Hindernisse und Grenzen werden dabei sichtbar. Diese können durch Copingreaktionen bedingt sein. Im Falle von Persönlichkeitsstörungen kommt es dabei auf Seiten des Therapeuten zum ‚Mauergefühl‘. Das Fremdheitserleben des Therapeuten bedeutet nicht, es gebe keine Fortschritte in der Therapie. Copingreaktionen sind Schutzreaktionen. Geschützt werden will Gutes. Das gilt es in der Therapie entsprechend ernst zu nehmen.

Schlüsselwörter: Begegnung, Dialog, Fremd, Anders

KINDER ALKOHOLBELASTETER BEZUGSPERSONEN

HELGA VOGT-MOSER

Im ersten Teil des Artikels werden die spezifischen Lebensbedingungen von Kindern aus alkoholbelasteten Familiensystemen dargestellt und mögliche Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung thematisiert. Im zweiten Teil wird erörtert, was Kinder brauchen, um sich gesund entwickeln zu können. Abschließend werden auf der Basis der vier Grundmotivationen therapeutische Interventionen für Kinder aus suchtbelasteten Familien vorgestellt.

Schlüsselwörter: Kinder, Alkoholismus, Familien, Existenz-analyse, Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen

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