Existenzanalyse 2/2024

Ausgabe 2/2024

Geschichte, Bedeutung und Verständnis

biographischer Arbeit in der Existenzanalyse

Christoph Kolbe

Logotherapie und Existenzanalyse taten sich anfangs schwer mit einem Verständnis von Biografie, das die Geschichte, ihre Prägungen und mehr oder weniger (un-)verarbeiteten Erfahrungen des einzelnen Menschen in den Fokus beraterischer und psychotherapeutischer Begleitung stellen wollte. Dies hatte mit Frankls grundsätzlicher Kritik am Psychologismus der Psychotherapie seiner Zeit zu tun. Biografie wurde als Zukunftsentwurf gesehen, der Mensch in seiner Möglichkeit, immer auch ein anderer werden zu können, in den Blick genommen. Unter dem Eindruck des Gewichts biographischer Erfahrungen in ihrer Bedeutung für das Erleben und das Selbstverständnis von Welt und der Bezugnahme zu Werten änderte sich dieses Verständnis. Es rückte der Mensch mit seinen Haltungen, die sich häufig erst aus der Verarbeitung biographischer Erfahrungen erklären ließen, ins Blickfeld. Die therapeutische oder beraterische Arbeit an diesen Haltungen und ihr Verstehen werden inzwischen als eine Voraussetzung für eine authentische Lebensgestaltung gesehen.

Der Artikel wird einen Überblick zur Geschichte der Bedeutung und des Stellenwertes biographischer Arbeit im Horizont der Logotherapie und Existenzanalyse geben und ein aktuelles Verständnis darlegen.

Schlüsselwörter: Biografie, Lebensgeschichte, Biographische Arbeit, Zeitlichkeit

Biographische Knotenpunkte und Individuation

Zur Bedeutung von Biografie und Biografiearbeit in der Analytischen Psychologie

Ralf T. Vogel

Die Analytischen Psychologie, manchmal auch als „Komplexe Psychologie“ oder „Psychoanalyse nach C.G. Jung“ bezeichnet, ist diejenige tiefenpsychologische Theorie und Praxis, die von C.G. Jung (1875-1961) eingeführt und seitdem weltweit innerhalb und außerhalb akademischer Institutionen weiterentwickelt wurde. Sie enthält sozialpsychologische, kultur- und religionswissenschaftiche sowie psychotherapeutische Anteile und entwickelte eine eigenständige klinische Psychologie und psychotherapeutische Praxis.

Schlüsselwörter: Biografiearbeit, Analytische Psychologie, Komplexe, Individuation, C.G. Jung

Der Körper als sedimentierte Biografie – Verdichtungen des Lebens

Zum Verhältnis von implizitem leiblichem Wissen und explizitem autobiografischem Erinnern

Markus Angermayr

In dieser Arbeit werden die beständigen körperleiblichen Mikroprozesse in den Blick genommen und die Bedeutung des körperleiblichen Bezugs für die Erinnerung aufgezeigt.

Im Gegenwartsmoment ist das gesamte Leben verkörpert, und zwar in einer Weise, die dem Rhythmus, der Haltung und dem Ausdruck der Situation im Augenblick entspricht. Im Moment der Präsenz, der Wahrnehmung, Akzeptanz und Zustimmung geschieht die Anverwandlung des sich in mir Ereignenden. Es ist ein Erinnern, das innere Aufmerksamkeit benötigt. Im lebendigen gegenwärtigen ‚Er-innern‘ zeigt sich zugleich – implizit – die Verbindung mit meinem Geworden-Sein. Präreflexive und bisher unbewusste „autonome“ Körperphänomene bekommen Raum sich zu zeigen und erschließen uns leiblich wahrgenommene biografische Aspekte. Spannend sind dabei Phänomene, die sich uns im Strom des Erinnerns nicht gezeigt haben oder unserer autobiografischen Erinnerung sogar widersprechen. Ohne körperleibliche Sedimentierung, wie sie im impliziten Leibgedächtnis gespeichert ist, können wir uns keinen Reim auf den Lebenslauf machen.

Schlüsselwörter: Körperleibliche Sedimente, Biografie, Präsenz, Implizites Wissen, Eindruck, „Felt-Sense“

Wenn Biografie Stellungnahmen unmöglich macht

Karin Matuszak-Luss

Die Ätiopathogenese der erschwerten oder blockierten personalen Stellungnahme wird im ersten Teil des Artikels betrachtet. In der Folge werden psychotherapeutische Vorgangsweisen diskutiert, die den Weg zur personalen Stellungnahme erschließen können. Ein Fallbeispiel soll die theoretischen Überlegungen praxisnahe verdeutlichen.

Schlüsselworte: Personale Stellungnahme, Biografie, existenzanalytische Behandlung

Wenn die Person zu schwinden scheint

Leben gestalten in der Demenz

Geertje Bolle

In einer Verzahnung von Begleitungen aus der Praxis, phänomenologischer Annäherung und theoretischem Grund beleuchtet der Artikel die Bezugnahme auf und das Arbeiten mit Biografie im Kontext der existenziellen Begleitung von Menschen mit Demenz. Die These: Existenziell zu leben, zu wachsen und das eigene Leben zu gestalten ist auch in und mit einer Demenzerkrankung möglich.

Der Artikel geht folgenden Gegenüberstellungen nach: Zeitgitterstörung kontra Resonanzgeschehen? Gedächtnisverlust kontra im Leibgedächtnis präsente Kontinuität von Lebensgeschichte? Musterhaftes Verhalten kontra personales Gestalten? Dabei werden der Umgang mit Zeit, das Gedächtnis und die Freiheit der Person eine Rolle spielen und auch die Frage, inwieweit wir in der Demenzerkrankung Themen begegnen, die letztlich uns alle in unserem existenziellen Sein betreffen.

Schlüsselwörter: Demenz, Person, Leibgedächtnis

Entwicklung – Reifung – Altern in Beratung und Psychotherapie

Der persönliche Beitrag zur Lebensgestaltung

Alfried Längle

In unserem Leben sind wir üblicherweise mit den täglichen Aufgaben, Problemen und Freuden beschäftigt. Sie ziehen die Aufmerksamkeit so sehr auf sich, dass wir den großen Bogen unseres Daseins wenig oder kaum im Blick haben. Wer schaut im Alltag auf die Gestalt und den Wurf seiner Biografie, des Geworden-Seins und des ausstehenden Lebens? Zu sehr hält uns die Geschäftigkeit in Atem. Diese Anbindung an das Unmittelbare kann zu einer Zersplitterung, Verfransung, Kompartimentierung oder Partikularisierung des Lebens führen, in der der ganzheitliche Charakter dieses einen, meinigen Lebens verblasst.

Es soll hier diese weite, biographische Perspektive in den Alltag eingebracht werden, den Entstehungsort der Biografie. Damit kann der Blick in Beratung und Psychotherapie geschult werden, um die aktuelle Arbeit in den Lebensbogen und mit der Reifung der Persönlichkeit zu verbinden. Entwicklung, Reifung und Altern finden ständig statt, markieren aber auch Lebensabschnitte. Worin bestehen sie, was sind ihre Strukturen? Und wie laufen ihre Prozesse ab? Spezielles Augenmerk ist auf die praktische Anleitung in Beratung und Psychotherapie gerichtet, so dass wir unsere Patienten und Klientinnen nicht nur in ihren Sorgen und Nöten begleiten, sondern sie in ihrer Biografie-Genese ganzheitlicher sehen und unterstützen können.

Schlüsselwörter: Biografie, Entwicklung, Werden, Reifen, Altern

Die personale Belastung einer multikulturellen Sozialisation

Cristina Bacher-Rieger

Viele Menschen sind im Rahmen der Gestaltung ihrer Lebensgeschichte mit dem Zusammenprall unterschiedlicher Kulturen existenziell konfrontiert. Besonders in der Zeit der Sozialisation können Schwierigkeiten bei der Integration, Ablehnung aufgrund des Andersseins oder daraus resultierende Konflikte mit den Eltern zu psychischen Belastungen führen. Wo findet sich in den unterscheidenden Welten Halt und Sicherheit, wo ist der eigene Raum gegeben? Wie integriert man die einander widersprechenden Werte? Anhand eines Fallbeispiels sollen hier die strukturellen Beeinträchtigungen sowie der Weg entlang der personalen Existenzanalyse zur eigenen emotionalen und geistigen biografischen Antwort veranschaulicht werden.

Schlüsselwörter: Sozialisation, Integration, Anderssein, Halt, Wertkonflikte

Das Recht haben zu sein – Das Recht haben man selbst zu sein

Biografische Arbeit in der Praxis der stationären Psychotherapie an der regionalen psychoneurologischen Klinik Lwiw, Ukraine

Viktoriya Zabor

Von besonderer Bedeutung in der Biografie sind diejenigen Zeiträume, die nachhaltige Eindrücke hinterlassen und Einfluss auf das aktuelle Leben haben. Der Artikel beruht auf Beobachtungen in der stationären Psychotherapie und stellt Besonderheiten der biografischen Arbeit innerhalb der Existenzanalyse bei Patient:innen vor, deren gegenwärtiges Leben von früheren traumatischen Erfahrungen eingeschränkt oder blockiert erscheint. Die Wiederentdeckung “des Rechts zu sein” und “des Rechts man selbst zu sein” ermöglicht den Patient:innen eine Rückkehr des Glaubens an sich selbst. Der psychotherapeutische Prozess kann zu Verringerung negativer Einflüsse biografischer Ereignisse führen.

Schlüsselwörter: Existenzanalyse, Grundmotivationen, Personale Existenzanalyse (PEA), Biografische Arbeit, Biografische Existenzanalyse (BEA)

Reise ins Verstehen

Überlegungen zur Indikation zur biografischen Arbeit in der Existenzanalyse

Ein Gespräch von Renate Bukovski mit Lilo Tutsch

Im Interview gehen die Gesprächspartnerinnen der Indikation zur biografischen Arbeit in der Existenzanalyse aus dem Blickwinkel ihrer langjährigen Tätigkeit als Psychotherapeutinnen nach. Sie suchen Antworten auf die Fragen, zu welchem Anlass und Zeitpunkt, wie und auch bei wem biografische Arbeit in der Psychotherapie indiziert ist. Sie überlegen Kriterien für die Notwendigkeit biografischer Arbeit als Orientierung für die Psychotherapeut:innen. Im Weiteren dreht sich das Gespräch um die Frage, ob es im Kontext der vorangegangenen Überlegungen unterschiedlicher Vorgangsweisen bedarf. Dies wird exemplarisch für Patient:innen mit mangelnder oder zeitweise stark beeinträchtigter Ich-Stärke bzw. schwacher Distanzierungs- und Dialogfähigkeit methodisch anhand eines Beispiels wie auch einer Beschreibung einer effizienten und Ich-schonenden Vorgangsweise ausgeführt.

Schlüsselwörter: Indikation zur biografischen Arbeit, Ich-Stärke, Strukturniveau, Vorgangsweisen biografischer Arbeit

Vom Mut, den Faden des eigenen Lebens wieder aufzunehmen

Szenen aus der körperorientierten Traumatherapie

Stephanie Häfele-Hausmann

Menschen, deren biographischer Faden durch traumatisches Erleben durchtrennt wird, entwickeln Copingmechanismen, um weitermachen zu können. Einer dieser Copingmechanismen ist die Dissoziation. Dissoziation schützt immer wieder vor einem erlebten Zuviel. Das Erleben von Abgeschnittensein, von Nur-Funktionieren und von mangelnden Möglichkeiten der Selbstregulation erschöpft auf Dauer und wird häufig beinahe unaushaltbar. Anhand von Szenen aus der körperorientierten Traumatherapie will gezeigt werden, wie durch das leibhaftige Kontakt-aufnehmen-zu-sich und das Einbeziehen des Körpers in der „Werkstatt Traumatherapie“ Halt gewonnen, Dissoziation vermindert und Teilhabe am eigenen Leben wieder mehr möglich wird.

Schlüsselwörter: Dissoziation, Traumatherapie, Körperorientierte Psychotherapie, KörperLeib

Den Übergang vom Kindergarten zur Schule meistern

Impulse für Eltern aus der Existenziellen Pädagogik

Nadine John

Viele Eltern erleben sich zu Schulbeginn in einem Spannungsfeld: Einerseits tragen sie selbst eine biografisch geprägte negative Einstellung zur Schule in sich, andererseits hegen sie den Wunsch, ihr Kind beim Übergang vom Kindergarten in die Schule gut zu begleiten, damit es mit Selbstvertrauen, Neugierde und Zuversicht in die Schulzeit starten kann. Dieser Artikel beschreibt zuerst die Herausforderungen von Schulanfänger:innen-Eltern und erläutert anschließend, wie die Existenzielle Pädagogik dazu beitragen kann, dass Eltern mit diesen Herausforderungen gut umgehen und ihre Kinder haltgebend und zuversichtlich begleiten können.

Schlüsselwörter: Übergang zur Schule, Schulstart, Eltern-Kind-Beziehung, Existenzielle Pädagogik, Grundmotivationen, Biografie, Personale Gesprächsführung

Vom Puls der Lebenszeit

Rhythmen und Gesetzmäßigkeiten in der Biografie – Anthroposophische Biografiearbeit im existenzanalytischen Prozess

Erika Salzmann

Die anthroposophische Biografiearbeit fußt auf dem spirituellen Menschenbild Rudolf Steiners und hat den Fokus, durch die Arbeit an der eigenen Biografie das Ich zu stärken und sich der geistigen Dimension des Lebensweges bewusst zu werden. Die Gliederung in größere und kleinere Abschnitte erleichtert das strukturierte Vorgehen bei der Betrachtung. Das Legen des Augenmerks auf bestimmte Punkte in der Biografie – wie z.B. die sogenannten „Mondknoten“ – kann zu einem Erkennen von Facetten des eigenen Wesens führen, die bisher nicht bewusst waren. Die Biografiearbeit kann im Rahmen einer existenzanalytischen Psychotherapie oder Beratung angewendet werden oder in einer Biografie-Gruppe, in der sich die Teilnehmenden gegenseitig Feedback geben und bei der Frage nach dem Wesentlichen in der Biografie unterstützen.

SCHLÜSSELWÖRTER: Biografiearbeit, Anthroposophie, Spirituelles Menschenbild, Selbst-Bewusstsein, Entwicklungskurven, Siebener-Schritte

Vom rätselhaften Beginn des Lebens

Erfahrungen aus der pränatalen Lebenszeit und ihre anthropologische Bedeutung

Astrid Görtz

Im folgenden Beitrag stelle ich den Beobachtungen aus der Pränatalforschung meine eigenen klinischen Erfahrungen mit Patient:innen sowie ausgewählte Fallbeispiele aus der Literatur gegenüber. Dabei lässt sich aufzeigen, welche langfristige Bedeutung früheste Erfahrungen aus dem Mutterleib haben. Schließlich verweise ich, insbesondere im Kontext mit pränatalen Erfahrungen von Patient:innen, auf die Notwendigkeit einer konsequent phänomenologischen Haltung in der existenzanalytischen Psychotherapie. Das erfordert auch die Abkehr von jeglichem Reduktionismus bei der Betrachtung der Biografie eines Menschen.

Schlüsselwörter: Pränatalforschung, Biografie, phänomenologische Haltung, Anthropologie

Krawall im Sein

Mutterwerden als existenzielle Herausforderung

Amila Schwarzacher-Softić

Mutterwerden ist eine existenzielle, tiefgehende Erfahrung, die Wandel mit sich bringt und mit vielerlei Verunsicherungen verbunden sein kann, was eine existenzanalytische Betrachtung geradezu erfordert – einerseits für eine phänomenologische Beschreibung dieser Veränderung, anderseits als Referenz für den psychotherapeutischen Zugang. Der Begriff des Übergangs bezeichnet den tiefgehenden Prozess des Übergehens vom Sein als Frau in ein erweitertes Sein zur Mutter. Das Bild der Tag-und-Nacht-Wende beschreibt in bildhafter Art diesen Übergang aus einem ruhig anmutenden Sein zum Hervorbrechen von Leben im hereinbrechenden Tag, das mit Unruhe, Tumult, ja sogar Krawall verbunden sein kann. Bedeutsame Faktoren für die Entstehung der Unruhe bis zum Krawall können gesellschaftliche Einflüsse, konservative und neoliberale Beunruhigungen und Erwartungen sein, und zwar dann, wenn die werdende bzw. gewordene Mutter fragil und nicht gefestigt in ihrer persönlichen Haltung und Entschiedenheit ist, wie sie ihr Mutter-Sein gestalten will. Es wird ein Fall beschrieben, in dem der gesellschaftliche Einfluss auf den Übergang und das daraus erwachsende problematische Erleben der Mutterschaft deutlich wird. Der existenzanalytische psychotherapeutische Zugang kann einen Weg eröffnen, wie die Mutter ihren persönlichen authentischen Weg zu einem stimmigen Mutter-Sein finden kann.

Schlüsselwörter: Mutterschaft, Identität, Person, Übergang, Existenz, Gesellschaft

Wirkung von Existenzieller Pädagogik

Eine Übersicht zu Existenzieller Pädagogik und Ergebnisse einer Pilotstudie bei Betreuungspersonen von Kindern in Fremdunterbringung

Eva Maria Waibel & Silvia Exenberger & Heidi Siller

Existenzielle Pädagogik ist ein Ansatz, der das Kind als Person in den Mittelpunkt stellt und dabei nicht nur Wirkung auf das Kind, sondern auch auf die Betreuungsperson (z.B. Pädagog:innen) hat. In diesem Beitrag wird der Fokus auf Wirkweisen von Existenzieller Pädagogik auf Betreuungspersonen gelegt. Dabei stützen wir uns auf eine komprimierte Literaturübersicht zur Existenziellen Pädagogik, und darauf aufbauend auf eine Pilotstudie zu Existenzieller Pädagogik bei Betreuungspersonen. In einer Befragung vor und nach einem Training fanden sich Veränderungen in Reflexion und im Umgang mit Ärger. Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch in anderen Studien. Existenzielle Pädagogik wird als Haltung und nicht als hauptsächlich methodengeleitete Pädagogik betrachtet.

Schlüsselwörter: Existenzielle Pädagogik, Fremdunterbringung, Reflexion, Betreuungspersonen, Pädagog:innen

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