Existenzanalyse 2/2021

Ausgabe 2/2021

Die Fähigkeit, dem Eigenen zu folgen

Wie gelingt Authentizität in der heutigen Zeit?

CHRISTOPH KOLBE

Der Mensch kann der Notwendigkeit, sein Leben in die Hand zu nehmen und es zu gestalten, nicht entkommen. Wie ist dies angesichts der Komplexität unserer Welt und ihrer rasanten Entwicklungen möglich? Neben der Klärung des existenzanalytischen Verständnisses von Authentizität sowie der Darlegung spezifischer Charakteristika unserer Zeit wird gezeigt, wie wir mit ihren Herausforderungen konstruktiv und authentisch umgehen können, um ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben zu führen.

Schlüsselwörter: Authentizität, Stimmigkeit, Eigentlichsein, Gewissen, Gesellschaft, Person

Vom ‚Ich im Wir’ zum ‚Wir des Anderen und Fremden’ – und zurück

Phänomenologische Aspekte und therapeutische Potentiale
interkultureller Begegnung

GEORG STENGER

Sowohl die Tradition der Philosophie als auch jene der diversen Therapie-Konzepte kommen darin überein, dass sie, theoretisch wie praktisch, von „therapeutischen Grundzügen“ getragen sind. Mein Beitrag möchte diese Verbindung eigens hervorheben, zumal diese in der Philosophie meist übergangen wird. Gleichwohl, begriffliche Selbstklärungen auf der einen, praktisch vollzogene Gesprächsräume zwischen Therapeut:in und Patient:in auf der anderen Seite, unterscheiden sich, was Weg und Ziel anbelangt, gar nicht so sehr, wie man zumeist annehmen möchte. Therapien sind in diesem Sinn Unterstützungen, Beförderungen, ja Freisetzungen des Menschseins hinsichtlich seiner gesellschaftlichen wie individuellen Tiefenstrukturen. Nicht allein in der sog. westlichen Hemisphäre liegt dies auf der Hand, auch in (ost)asiatischen Kontexten erweist sich dieser Konnex als grundlegend. Mein Beitrag geht unter diesen Hinsichten einige Wegstrecken entlang, worin Topoi wie ‚Ich’ und ‚Selbst’, ‚Wir’ und ‚Andere’ resp. ‚Fremde’‚ ‚Existenz’ und ‚Sinn’, ‚Situativität’ und ‚Tiefenstrukturen’ in ihren wechselseitigen Bedingungsformen und Konstitutionsprozessen zum Vorschein kommen. Bezugnahmen zu den Konzepten v.a. von Viktor E. Frankl und Kimura Bin möchten darauf hinweisen, dass diese Grundlagen und Einsichten von kulturübergreifender Relevanz sind.

SCHLÜSSELWÖRTER: Ich, Selbst, Existenz, Sinn, Wir, Fremderfahrung, Situation(sgeflecht)‚ Zwischen

Ein Plädoyer für die Integration von Schmerz

KARIN STEINERT

Hysterie ist eine Erkrankung, die sich hinter anderen Diagnosen versteckt, am liebsten hinter solchen, die gerade im Trend sind. Im Moment erleben das Trauma und die Traumatherapie ein großes Interesse bis hin zu einem inflationären Charakter in der therapeutischen Landschaft. Dadurch werden oft Verletzungen mit Traumatisierungen verwechselt, was zur Folge haben kann, dass Verletzungen ausschließlich versorgt werden, ohne den dahinterliegenden Schmerz anzurühren. Aber ohne Anrühren des Schmerzes gibt es keinen Weg aus der Hysterie. In dem Artikel soll der Unterschied zwischen Verletzung und Trauma beleuchtet und ein Umgang mit psychischem Schmerz in der therapeutischen Praxis thematisiert werden.

Schlüsselwörter: Hysterie, Schmerz, Trauma

Hysterisch sein

Grundzüge des Erlebens und Behandelns inneren Verloren-Seins
Ein Gespräch

RENATE BUKOVSKI, ALFRIED LÄNGLE

Hysterische Verhaltensweisen und Persönlichkeitszüge haben eine hohe Verbreitung in der Bevölkerung. Wegen ihrer genuinen Adaptabilität an das soziale Umfeld sind sie oft nicht als solche auffällig, sondern im sozialen Miteinander eher versteckt und nicht leicht zu erkennen, obwohl sie durchaus Probleme machen können. Einzelne Züge sind naturgemäß weniger auffällig als die ganze Ausprägung der histrionischen Störung. Das Vollbild der histrionischen Persönlichkeitsstörung ist aber viel seltener als das Auftreten einzelner Verhaltensweisen oder Persönlichkeitszüge und wird überdies heute weniger diagnostiziert. Häufig sind solche Züge hinter anderen Diagnosen versteckt.

Dieses Gespräch soll die Grundzüge des hysterischen Erlebens und Verhaltens sowie seine Dynamik deutlich machen und die entsprechend wichtigsten Elemente der therapeutischen Vorgehensweise aufzeigen. Damit sollen ein am Erleben orientiertes Bild der zugrundeliegenden Schmerz-Dynamik vermittelt und der in der Behandlung nötige Umgang aus existenzanalytischer Sicht besser nachvollziehbar und emotional zugänglicher werden.

Schlüsselwörter: Hysterie, Diagnose, Therapie, Gesellschaft

Kindheit heute – ein Kinderspiel?

BRIGITTA MÜHLBACHER

In der Kindheit machen wir Menschen grundlegende Erfahrungen, die unser ganzes weiteres Leben prägen. Insofern ist es wesentlich, unter welchen familiären und gesellschaftlichen Bedingungen Kinder aufwachsen. Allerdings hat sich unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten aufgrund Pluralisierung, Globalisierung und Digitalisierung deutlich verändert und dadurch auch die Familienstruktur sowie die Lebenswelt der Kinder. Dies ist für Eltern und Kinder eine große Herausforderung und bewirkt neben Chancen auch neue Probleme und Gefahren. Was brauchen Kinder, um in dieser agilen Gesellschaft zurechtzukommen, unbeschwert Kind sein zu dürfen und zu authentischen Individuen heranwachsen zu können?

Schlüsselwörter: Kindheit, Kinder, Familie, Elternschaft, digitale Medien, Authentizität

Wege zur Authentizität von Unternehmen.

Erfahrungen mit existenzanalytischen Ansätzen im Management

RAINER KINAST

Für den Erfolg eines Unternehmens kann entscheidend sein, ob sein Auftritt bei Kunden und vor allem auch am Personalmarkt glaubwürdig und somit authentisch erscheint. Für diesen Erfolg kann die Existenzanalyse – ergänzend zu einem systemischen Managementdenken – einen wesentlichen Beitrag leisten. Folgende zwei Thesen werden mit der existenzanalytischen Theorie beleuchtet und mit Erfahrungen aus der Praxis belegt: Eine gezielte Wertearbeit in Unternehmen fördert die Identifikation der Mitarbeitenden mit dem Unternehmen und eine authentische Wirkung des Unternehmens (These 1). Voraussetzung für die Identifikation der Mitarbeitenden und die glaubwürdige Authentizität eines Unternehmens ist eine Führungskultur, die eigenverantwortliches Handeln der Mitarbeitenden fördert (These 2).

Schlüsselwörter: Unternehmenswerte, eigenverantwortliches Engagement, Führungskultur, Identifikation mit dem Unternehmen, Authentizität von Unternehmen

Unterdrücktes Selbst-Sein

DORIS FISCHER-DANZINGER, BARBARA GAWEL

Es gibt viele Gründe dafür, sein Selbst-Sein nicht frei leben zu können. Etwa kann eine andauernde Unterdrückung der Lebendigkeit des Kindes durch nahe Bezugspersonen die Entfaltung des Eigenen behindern. Symptombildungen wie Angst, Aggression, depressives Erleben, Selbstabwertung und Abwertung Anderer können die unreife Brüchigkeit überformen.

Die Demonstration im Rahmen des Kongresses stellt dar, wie die Patientin existenzanalytisch angeleitet wird, wahrzunehmen, was in ihr ist, in einen inneren Dialog zu finden, Selbst-Verantwortung zu übernehmen und in ein authentisches Handeln zu kommen.

Schlüsselwörter: Selbst-Sein, Aggression, depressives Erleben, Abwertung, Dialog

Hysterie und Narzissmus im Lichte der agilen Gesellschaft

BARBARA JÖBSTL

Hysterie und Narzissmus sind charakterisiert durch Attribute wie Extraversion, Wirkung, Charme, Verführungskunst, Leistungsbereitschaft, Zielstrebigkeit, Flexibilität, Publikumswirksamkeit und vieles mehr. Als Persönlichkeitseigenschaften stellen diese Ressourcen dar, die in unserer agilen Gesellschaft sehr willkommen sind. In der Ausprägung als Störungen des Selbst sind sie Leiden verursachend, da das Können, das diesen Eigenschaften innewohnt, einem psychodynamischen Müssen folgt.

In diesem Beitrag soll beleuchtet werden, ob und wie die Genese und Aufrechterhaltung der Störungen des Selbst durch unsere agile Gesellschaft befördert und begünstigt werden.

Einleitend sollen die Bedingungen für die Selbstwertbildung schematisch dargelegt werden, es folgt die Beschreibung der klinischen Bilder der hysterischen und narzisstischen Persönlichkeitsstörung unter Verweis auch auf die spezifischen Fähigkeiten dieser Persönlichkeitstypologie.

Nach der ausführlichen Darstellung der Wechselwirkung zwischen Gesellschaft mit ihren narzisstisch-hysterischen Phänomenen – Individuum – Erziehung und Selbstwerdung bzw. gelungener und misslungener Selbstwertbildung und Ichfindung soll noch kurz auf die zentralen Elemente der Therapie dieser Störungen verwiesen werden. Abschließend sollen die theoretischen Überlegungen anhand einer kurzen Fallvignette plastischer werden.

Schlüsselwörter: Hysterie, Narzissmus, Selbstwert- und Ich-Bildung, agile Gesellschaft, Erziehung

Macht Krankheit authentisch(er)?

ELSIABETH PETROW

Überraschend viele Menschen antworten mit Zustimmung auf die im Titel gestellte Frage. Bei genauerer Betrachtung erweist sich die Beziehung zwischen Krankheit und Authentizität dagegen als komplex und ambivalent. Krankheit kann das Gefühl für die eigene Identität auf so tiefgehende Weise verändern, dass sich ein stimmiges In-der-Welt-Sein, aber auch ein stimmiges Mit-sich-selbst-Sein vorübergehend oder dauerhaft nicht mehr einstellen. Dennoch kann sich eine schwere Erkrankung als Zugang zu mehr Authentizität erweisen, wenn man den Mut findet, sich auf die zahlreichen Anfragen dieser Lebenszäsur einzulassen und seine eigene, unvertretbare Antwort zu geben.

Schlüsselwörter: Authentizität, Krankheit, Identität mit sich selbst

„Aber dann beschützt MICH das Inner Beast ja!“ –

Wie der Ärger junge Menschen an ihr ICH heranführen kann

ESTHER PURGINA

In dieser Arbeit wird der Hypothese nachgegangen, ob der Prozess der Ich-Findung bei Adoleszenten durch die Auseinandersetzung mit den Gefühlen Ärger oder Zorn unterstützt werden kann.

Die im ersten Schritt stattfindende Auseinandersetzung mit dem existenzanalytischen Verständnis von Aggression und den neurophysiologischen Veränderungen des Gehirnes bei heranwachsenden Menschen wird in einem zweiten Schritt durch die ausführliche Schilderung eines Falles von der Theorie in die Praxis gehoben.

Schlüsselwörter: Ich-Findung, Aggression, Adoleszenz, Fallbeispiel

Forschung und psychotherapeutische Praxis – wie geht das zusammen? 

Wie Forschung die existenzanalytische Praxis unterstützen kann

SILVIA LÄNGLE, ASTRID GÖRTZ UND CLEMENS FARTACEK

Die Erforschung der freien Praxis ist für die Psychotherapieforschung bedeutsam, als sie die psychotherapeutische Arbeit dort untersucht, wo sie letztendlich wirksam werden soll. Das Mitwirken in der Forschung wird jedoch von vielen Psychotherapeut:innen als zusätzliche Belastung ohne direkten Nutzen für ihre Arbeit empfunden. Hier sollen drei Forschungsansätze vorgestellt werden, und zwar hinsichtlich des Vorteils, den die Psychotherapeut:innen durch das Mitwirken in der Forschung erhalten. So werden die phänomenologisch-hermeneutische Analyse, die qualitative Einzelfallforschung und die zeitreihenbasierte Einzelfallforschung in ihrem Wert für die Qualität des praktischen therapeutischen Arbeitens skizziert.

Schlüsselwörter: Qualitative Psychotherapieforschung, phänomenologisch-hermeneutische Analyse, zeitreihenbasierte Einzelfallforschung, Klient:innenperspektive

Personale Inkarnation des Ich im Selbst

Vom Ich zum Selbst zum Wir

EMMANUEL J. BAUER

Das Ich bleibt ein leeres formales Konstrukt (transzendentales Ich bei Kant) oder eine isolierte egozentrische Monade, bestenfalls narzisstisches Subjekt, solange es nicht zum Ich-Selbst wird. Als Selbst wird das Ich quasi „Fleisch“, es gewinnt personale Struktur und Wirklichkeit. Denn erst als sozial vernetztes Selbst kann die Person zum Ort von Sinn und Erfüllung werden.

Der Artikel will die personal-dialogische Innenstruktur des Ich-Selbst beleuchten und die spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten seiner sozialen Verankerung unter den Bedingungen der heutigen Gesellschaft.

Schlüsselwörter: Ich-Behauptung, Selbst-Bestimmtheit, Wir-Sein, Person, Innehalten

Darf ich so sein, wie ich bin?

Die personalen Herausforderungen für jeden von uns in der modernen Demokratie

CHRISTINA BACHER-RIEGER

Unsere liberale Demokratie gründet auf dem Prinzip der Freiheit und Verantwortung ihrer Bürger; der Staat soll bloß den schützenden Rahmen für deren Entfaltung bieten. Viele Menschen fühlen sich heute jedoch dadurch überfordert, nicht gesehen und überrollt. Eine Entfremdung zwischen Individuen, Gesellschaft und Politik ist spürbar.

Anhand namhafter Denker der letzten hundert Jahre lade ich den Leser zur personalen Konfrontation mit verschiedenen Betrachtungsweisen zu diesem Thema allgemein und konkret im aktuellen Kontext der Herausforderungen durch die Corona-Pandemie ein. Schließlich stelle ich die These auf, dass die Existenzanalyse – im dialogischen Austausch mit sich und der Welt – gerade hier einen gesellschaftlich-politisch relevanten Beitrag leisten kann.

SCHLÜSSELWÖRTER: Soziales Selbstbewusstsein, Eigenverantwortung, Transzendenz, Freiheit, dialogischer Austausch, Gewissen, So-sein-Dürfen

Aspekte der Würde im (Post-)Liberalismus aus existenzanalytischer Sicht

ANDREAS LORETZ

Zwei im Jahr 2018 erschienene und in „Spektrum der Wissenschaft“ gemeinsam rezensierte Bücher, „Identität“ von Francis Fukuyama und „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ von Yuval Harari, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der Krise der liberalen Demokratie auseinandersetzen, gelangen zu einem ähnlichen Schluss: Sie stellen fest, dass diese Krise auch eine Reaktion auf die Gefahr des Verlustes von Bedeutung des Einzelnen, eines „Unsichtbarwerdens“ und des drohenden Verlustes von Würde ist. Die vorliegende Arbeit geht den dort vorgebrachten Argumenten über die Veränderung des Liberalismus nach und betrachtet diese Transformation und den Aspekt des Verlustes der Würde aus einem existenzanalytischen Blickwinkel.

Schlüsselwörter: Liberalismus, Würde, Transformation, Individuum, Selbst, Identität

Bestellungen bitte per E-Mail an
gle@existenzanalyse.org

Abo-Anmeldung unter
gle@existenzanalyse.org