Existenzanalyse 1/2023

Ausgabe 1/2023

Scham – Hüterin der Intimität und Sexualität

INGO ZIRKS

 Das Schamerleben ist zutiefst leiblich erfahrbar. Schon als Säugling gibt es Vorstufen der Scham. Mit dem Heranwachsen in der Gemeinschaft und der Fähigkeit der Selbstwahrnehmung sehen wir uns mit den Augen der anderen und erleben uns, deren Bewertungen ausgeliefert. Dieser Prozess hat Auswirkungen auf das Erleben von Intimität und Sexualität, die sich lebenslang entwickeln.

Die Scham schützt jedoch die Person vor unbefugter Entblößung, so dass Verletzliches, Intimes und noch nicht Bereites geborgen bleiben können. An Fallbeispielen wird gezeigt, wie professionelle Situationen und Beziehungen gestaltet werden können, so dass es zu einer Begegnung des Menschen mit sich selbst, aber auch mit seinen Mitmenschen kommen kann und der Inhalt der Scham wertschätzend geborgen wird.

Schlüsselwörter: Existenzanalyse, Scham, Sexualität, Intimität, Entwicklung, Sexualtherapie

Entwicklungsprozesse von Menschen mit pädophilen Neigungen existenzanalytisch begleiten

Skizzen aus der Perspektive der existenzanalytischen Sexualtherapie

INGO ZIRKS

Dieser Artikel beschreibt die Situation pädophiler Menschen, die ihre sexuelle Neigung nicht ausleben können, ohne schutzbefohlene Kinder zu verletzen. Es werden die therapeutischen Herausforderungen, Möglichkeiten und Grenzen beschrieben, den betroffenen Menschen zu helfen, einen Umgang mit ihrer sexuellen Neigung zu finden, da es letztlich keine Heilung davon gibt. Abwehrmechanismen und die personalen Aktivitäten werden aufgezeigt. Elemente existenzanalytischer Psychotherapie werden skizziert und für eine realistische Sicht auf die Situation und Möglichkeiten von Tätern geworben. Eine existenzanalytische Fallstudie rundet den Artikel ab.

Schlüsselwörter: Pädophilie, Existenzanalyse, Psychotherapie

Die existenzanalytische Behandlung der erektilen Dysfunktion unter Einbezug supportiver Methoden

Wenn die Erektion geht, schlägt die Stunde der Potenz!

INGO ZIRKS

In diesem Artikel wird die Anwendung einer existenzanalytischen Sexualtherapie unter Hinzuziehung supportiver Methoden am Beispiel der erektilen Dysfunktion dargestellt. Die existenzanalytische Diagnostik ergänzt und verschränkt sich mit den bekannten Diagnosesystemen wie ICD-10 und DSM-5. Das therapeutische Herangehen in den dargestellten Fallvignetten wird nachvollziehbar aus der existenzanalytischen Theorie. Auch die supportiven Methoden passen in die existenzanalytische Fallkonstruktion.

Schlüsselwörter: Existenzanalyse, Sexualtherapie, erektile Dysfunktion

„Selbstoffenbarung“

im psychotherapeutischen Gespräch

CLAUDIA REITINGER

Im Folgenden Artikel wird der Frage nachgegangen, inwiefern Selbstoffenbarung (therapist self-disclosure, TSD), also das Einbringen von Persönlichem seitens des/der Therapeuten*in, eine sinnvolle Intervention ist. Nach einem Überblick über die empirische Forschung zu dieser Thematik wird der Frage nachgegangen, inwiefern sich TSD theoretisch in die Existenzanalyse einordnen lässt. In einem letzten Teil werden induktiv gewonnene Kategorien von TSD nach Motiven/Funktionen beschrieben und mit kurzen Beispielen aus der Praxis veranschaulicht.

Schlüsselwörter: Selbstoffenbarung/Selbstenthüllung, PEA, Fallbeispiele, Methode, Intervention

Existential Touch – Berührung als körperleiblicher Dialog

Anregungen aus dem „Existenziellen Grounding“

MARKUS ANGERMAYR

Die Arbeit zum Thema „körperleibliche Berührung“ entstand aus einem Vortrag beim 28. Internationalen Seminar für körperbezogene Psychotherapie, Körpertherapie und Körperkunst 2022. Körperliche Berührung ist für Menschen wesentlich. Wir sind berührte, fühlende und spürende, Lebewesen. Berührungserfahrungen wirken sich fundamental auf unser Dasein, unser Gefühl von Lebendigkeit und unser Selbstsein aus. Körperlicher Kontakt öffnet den Zugang zum eingefleischten Selbst. Als früheste basale Erfahrungen hinterlassen sie Spuren im Leibgedächtnis. Dieses implizite (Körper-)Wissen kann bei späteren Berührungen explizit werden durch auftauchende Bilder, Impulse oder Empfindungen, die lange verborgen waren. Berührungen erschließen das präreflexive Vorverständnis auf eine ganzheitliche Weise und ereignen sich doch in der Gegenwart, sie können zu einer sicheren Verbindung zum Hier und Jetzt werden. Dabei ist das Phänomen Berührung oft komplex und hoch ambivalent. In diesem Artikel werden einige Aspekte von Berührung aus existenzanalytischer Sicht beleuchtet und ihre Bedeutung reflektiert. Zudem werden notwendige prozessuale Fähigkeiten aufgezeigt, damit körperleibliche Berührungssequenzen in den Prozess integriert werden können.

Schlüsselwörter: Berührung, körperleiblicher Dialog, Resonanz, Körperwissen, Leibgedächtnis

Viktor, Alf und Bea im Jugendknast

Existenzanalyse bei delinquenten Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Justizanstalt

MARIO WOLFRAMM

Die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen stellt spezifische Anforderungen an die Psychotherapie. Identitätskrisen, Ziellosigkeit und der Höhepunkt delinquenter Verhaltensweisen gepaart mit affektiver Labilität sind während dieser Lebensphase anzutreffen. Für manche Personen aus dieser Altersklasse ist der Weg in die Straffälligkeit vorgezeichnet. Die Anwendung der Existenzanalyse als Angebot für delinquente Jugendliche und junge Erwachsene in der Jugendabteilung einer österreichischen Justizanstalt wird im Rahmen dieser Arbeit vorgestellt. Es sollen anhand von Fallvignetten exemplarisch die existenzanalytische Arbeit dargestellt, und die Möglichkeiten und Grenzen dieser Therapieform in diesem besonderen Umfeld diskutiert werden.

Schlüsselwörter: Jugendliche, Straffälligkeit, Justizanstalt, Kriminalität

Von Paarmythen und Paartänzen

Eine Möglichkeit, Paardynamik sichtbar und therapeutisch wirksam werden zu lassen

IRIS M. BUCHER & JOHANNES J. BUCHER

Unter dem Paarmythos wird das Geheimnisvolle, das Paare spürbar miteinander verbindet, verstanden. Er entsteht in der Phase der Paarwerdung und enthält sowohl psychodynamische als auch personale und visionäre Anteile, die auf Potentiale und Möglichkeiten ausgerichtet sind. Der Paarmythos verbindet das Paar; er kann Wachstum fördern, aber auch verhindern. Der Paartanz ist eine gelebte Gestaltung der alltäglichen Herausforderungen des Paares im Horizont des Paarmythos. Hier kommen psychodynamische Muster, aber auch gemeinsame personale Potenziale aus dem Zusammenleben und aus der Art des Dialogs zum Vorschein. Je schwieriger sich dieser gemeinsame Anpassungs- und Veränderungsprozess in der Beziehung gestaltet, desto kämpferischer wird der Tanz. Der Paartanz kann im Idealfall also zum erfahrbaren kreativen Begegnungsraum werden. Wie Paare im Hinblick auf diese Dynamiken existenzanalytisch begleitet werden können, soll vor dem Hintergrund theoretischer Inhalte und anhand eines praxisbezogenen Beispiels aufgezeigt werden.

Schlüsselwörter: Paartherapie; Dialog; Paarraum; Paardynamik; Paarmythos; Paartanz

Die Bedeutung des Dialogs für gelingende Veränderung

Existenzanalytische Impulse für das Change Management

MAREN LANGE

Betrachtet man verschiedene Studienergebnisse zum Thema Change Management, ist ihnen eines gemeinsam: Veränderungsprozesse gelingen häufig nicht – oder die erzielten Ergebnisse bleiben hinter den Erwartungen zurück. Und das, obwohl vielfältige Erkenntnisse und Erfahrungen zum Thema Change Management vorliegen.

Dieser Beitrag wurde inspiriert durch die Idee, existenzanalytische Perspektiven auf das Thema Change Management zu beziehen. Im Mittelpunkt soll dabei die Bedeutung des Dialogs stehen. Was unterscheidet ihn von Kommunikation, Information und Diskussion? Worauf kommt es im Wesentlichen an? Und wie kann es gelingen, Veränderungen in Organisationen auf der Grundlage einer Dialogkultur so zu gestalten, dass sie gelingen und gemeinsam getragen werden?

Schlüsselwörter: Veränderung, Veränderungsgestaltung, Kommunikation, Dialog, Kultur

Die Musen schweigen nicht:

Eine personale Ressource des Schönen

IRINA EFIMOVA

In diesem Artikel wird aus der Perspektive der Existenzanalyse untersucht, warum das Schöne eine so starke Wirkung auf den Einzelnen haben kann und warum es so wichtig für die eigene Existenz ist. Die Mechanismen des Zusammenspiels zwischen dem Schönen in der Welt und dem Persönlichen, sowie der Einfluss des Schönen auf der Ebene der vier Grundmotivationen werden durch eine phänomenologische Perspektive auf das Erleben des Schönen, sowie die Schritte der Personalen Existenzanalyse (PEA) offengelegt. Der Prozess der Auswirkung des Schönen auf den Einzelnen auf der personalen Ebene ist bereits gezeigt worden. Ein in Kontakt kommen mit dem Schönen gibt dem Menschen innere Stabilität, eine Bestätigung des eigenen Wertes, Respekt vor sich selbst und die Möglichkeit, das kreative Potenzial seiner Person zu verwirklichen. Das Schöne kann differenziert werden in Kategorien wie hübsch, wertvoll, wesentlich. Diese sind nicht gleichwertig, aber das Schöne beinhaltet neben dem Guten auch Eigenschaften des Wesentlichen und Wertvollen. Diese Besonderheit macht es uns leicht durch das Schöne mit den Emotionen und der Persönlichkeit des Menschen in Kontakt zu kommen. Das Schöne kann daher als ein „Guerilla-Pfad“ zum Personalen und zu den Emotionen betrachtet werden, der in der psychologischen Praxis genutzt werden kann. Auf der Grundlage dessen werden sowohl unspezifische Anwendungen in der Arbeit mit Patienten als auch in der Therapie von Ängsten, Depressionen, Identitätsstörungen, Süchten und Kriseninterventionen beschrieben.

Schlüsselwörter: Das Schöne, ästhetischer Sinn, Existenz, Person, Phänomenologie, PEA.

PSYCHOLOGICAL FIRST AID IN DIFFICULT TIMES

Recognizing meaning when nothing makes sense

PETRA KLASTOVÁ PAPPOVÁ

The war conflict in Ukraine, ongoing since February 2022, has caused a refugee wave in Europe on a scale not seen since WWII. Traumatizing experience of refugees, fleeing for their lives towards the unknown makes a strong case for a systematic provision of psychological first aid (PFA) as a first step in a series of possible psychological interventions. The present article introduces basic points of reference and principles of administration of PFA. The theory is then applied on the first hand experience by the author who administered PFA at a land border crossing point between the Slovak Republic and Ukraine in March 2022. The article concludes by summarizing data from research of volunteers who administered PFA to refugees from Ukraine. Main points of interest include motivations of volunteers, their perspectives of their experience, and their views of what actually proved beneficial to refugees. Research data was collected using open questions and unfinished sentences. Responses were evaluated using qualitative analysis.

Keywords: psychological first aid, war in Ukraine, volunteers, fundamental existential motivations, qualitative analysis

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