Existenzanalyse 1/2012
Zeit für einen Wandel
Grundlegende Gedanken zur Psychotherapieforschung
Daniel Scheyer
Die vorliegende Arbeit setzt sich mit der gegenwärtig kontrovers geführten Diskussion um das derzeit vorherrschende Forschungsparadigma in der Psychotherapie auseinander. Dabei werden die Bedeutung von Menschenbild und Theorie, das Verhältnis von Symptom und Person, das Problem der Komorbidität und die Sinnhaftigkeit manualisierter Psychotherapie genauer beleuchtet. Das nach wie vor als Goldstandard propagierte RCT-Studiendesign erweist sich bei genauerer Betrachtung für das komplexe Feld der Psychotherapieforschung als unzureichend und ist daher abzulehnen. Im Sinne einer praxisbasierten Evidenz wird für einen naturalistischen Forschungsansatz plädiert, der unterschiedliche methodische Zugänge miteinander verbindet.
Schlüsselwörter: Psychotherapieforschung, praxisbasierte Evidenz, naturalistisches Forschungsdesign, RCT, EST
Vier phänomenale Kategorien
Konzept einer phänomenologischen Heuristik
Joachim Arnold
Phänomene werden durch ihre Aspekte und in ihren Bedeutungen erfahren. In diesem Artikel wird ein Zusammenwirken von wahrgenommenen Aspekten und erkannten Bedeutungen dargestellt, woraus vier Kategorien für die Erscheinungsweisen von Phänomenen abgeleitet werden: Repräsentation, Symbol, Illusion und Chaos. Diese Systematisierung könnte als heuristisches Konzept zu einer Klärung beitragen, wenn es zu Störungen in der Wahrnehmung der „äußeren“ und „inneren“ Welt kommt. Im Kontext der Psychotherapie sollte dies einer phänomenologischen Haltung dienlich sein.
Schlüsselwörter: Phänomenologie, Repräsentation, Symbol, Illusion, Chaos
Die Begegnung mit dem Nichts – Innere Leere und Sucht
Elsbeth Kohler, Johannes Rauch, Oliver Bachmann
In dem Artikel werden die neuesten neurophysiologischen Erkenntnisse über die innere Leere dargestellt, und schließlich folgt eine existenzanalytische Annäherung an das Phänomen. Der Zusammenhang der inneren Leere mit der Sucht und dessen Behandlung in der stationären Therapie werden beschrieben. Die therapeutische Behandlung stützt sich sowohl auf die neuesten Forschungsergebnisse der Neurobiologie als auch auf die Grundlagen der Existenzanalyse. So bilden die personale Beziehung und die Methoden der Existenzanalyse die Grundlage für die Methoden der Traumatherapie, der dialektisch behavioralen Therapie und der Suchtbehandlung.
Schlüsselwörter: Innere Leere, Sucht, Persönlichkeitsstörung, Behandlung
„Und das Heroin hüllte sie in einen Schutzmantel“
Trauma und Sucht – eine Fallvignette
Elsbeth Kohler
Anhand einer Fallvignette wird das Ineinandergreifen von Posttraumatischer Belastungsstörung und Sucht in der Pathologie und der Behandlung beschrieben. Die Behandlung von PTBS und Sucht muss gut aufeinander abgestimmt werden, um ein gegenseitiges Destabilisieren zu vermeiden. Phänomenologisches Vorgehen wurde in diesem Fall mit Suchtbehandlung mit Traumatherapie verbunden. In der Fallvignette zeigt sich das Suchtmittel Heroin in der Funktion eines lebensunterstützenden Copings.
Schlüsselwörter: Stationäre Suchtbehandlung, Traumatherapie, Existenzanalyse, Fallvignette
Kurzzeittherapie in der Suchtarbeit – eine Falldarstellung
Stationäre Alkoholbehandlung
Helmut Jarosik
Es wird eine stationäre Einrichtung zur Behandlung von alkohol- und medikamentenabhängigen Patienten und eine spezielle darin verwendete Form von Psychotherapie (Existenzanalyse) vorgestellt. Neben ihrem spezifischen Verständnis von Sucht wird anhand eines Fallbeispieles die praktische Vorgangsweise verdeutlicht und anschließend reflektiert. In der stationären Arbeit wird besonderer Wert auf die multidisziplinäre Verschränkung der rein psychotherapeutischen Tätigkeit mit medizinischen, kreativtherapeutischen sowie ergo- und soziotherapeutischen Angeboten gelegt.
Schlüsselwörter: Existenzanalyse, Kurzzeittherapie, stationäre Psychotherapie, Suchttherapie
Leisten, Trinken und sonst nichts. Oder doch?
Elfriede Huemer-Zimmermann
Es ist bekannt, dass Alkoholiker eine handfeste Krise benötigen, um sich in Entwöhnung zu begeben. Das folgende Fallbeispiel beschreibt eine Therapie, die in zwei Phasen stattfand. In der ersten Phase wurde schwerpunktmäßig an den Grundmotivationen gearbeitet, eine Stellungnahme war zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich. Es gab eine Unterbrechung der Therapie, in der eine noch größere Krise auftrat als jene, die zur Entwöhnung führte. Diese hat den Patienten dazu bewogen, sich zu stellen. Im zweiten Teil der Therapie konnte mit Hilfe der Personalen Existenzanalyse authentisch Stellung bezogen werden, die schlussendlich zu einer zufriedenen Abstinenz führte.
Schlüsselwörter: Alkoholabhängigkeit, Grundmotivationen, Trauerarbeit, Stellungnahme
Substanzenmissbrauch als komorbide Störung
Erika Luginbühl
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Problematik des Substanzenmissbrauchs als komorbide Störung. Es geht um den Einfluss psychoaktiver Substanzen auf die Entstehung, den Verlauf und die Behandlung psychischer Störungen. Konkret wird der Frage nachgegangen, bei welchen Patienten in einer allgemein psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis innerhalb eines Zeitraums von einem Jahr ein Substanzenmissbrauch als komorbide Störung festzustellen ist und welche Substanzen missbraucht werden. Fallschilderungen bringen den Missbrauch in einen Zusammenhang mit der Lebensgeschichte. Sie sollen die Problematik veranschaulichen und die daraus abgeleiteten therapeutischen Ansätze verständlich machen.
Schlüsselwörter: Substanzenmissbrauch als komorbide Störung, Fallschilderungen, Substanzenmissbrauch
Bulimie – die betrogene Verheißung
Phänomenologisches Verständnis und existentieller Zugang
Alfried Längle, Barbara Jöbstl, Ruth Kathan-Windisch, Claudia Klun, Silvia Längle, Christa Lopatka, Christian Probst, Michaela Probst †, Daniel Trobisch, Paul Wyckoff, Hans Zeiringer
Entsprechend der personal orientierten Vorgangsweise der Existenzanalyse wird der Zugang zur Bulimie phänomenologisch, d.h. anhand des Wesens auf der subjektiven Erlebnisebene, versucht. Darin erweist sich die Bulimie als Symptom eines doppelten existentiellen Mangels: einerseits fehlt es an Zuwendung zu sich (was der „zweiten existentiellen Grundmotivation“ entspricht), andererseits scheint sie in der Schwierigkeit der Findung und Bewahrung des Selbst und der damit verbundenen Abgrenzung begründet. Entsprechend der „dritten existentiellen Grundmotivation“ ist damit der Zugang zum Eigenen (Selbstsein als Person) erschwert. – Nach einer Beschreibung der psychischen Bedeutung des Essens wird die Brücke zum Essens (und Erbrechens) als Mittel zur Beruhigung der charakteristischen bulimischen Pathologie geschlagen. In diesem Kontext wird die Bulimie auch als Manifestation spezifischer personaler Prozeßblockaden deutlich. Psychopathogenetisch betrachtet entsteht Bulimie im Rahmen diffuser, enttäuschender Beziehungen, in denen in Zuwendung verpackte Abwendung als spezifische Leidensursache angesehen wird. – Abschließend werden aus diesem phänomenologischen Verständnis abgeleitete Therapie-Ansätze vorgestellt.
Schlüsselwörter: Existenzanalyse, Phänomenologie, Bulimie, existentielle Grundmotivationen
Vom leeren Teller zum gedeckten Tisch
Christine Koch
Nach einem kurzen Überblick über Essstörungen (ohne Bezugnahme auf Adipositas) wird die Fallgeschichte und Therapie einer Klientin beschrieben, die unter Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht) leidet. Obwohl am Beginn der Erkrankung eine Anorexia nervosa (Magersucht) stand und es immer wieder zu anorektischen Phasen kam, liegt der Fokus auf der aktuellen und vorherrschenden Diagnose „Ess-Brech-Sucht“. Sequenzen einzelner Sitzungen und Interventionen sollen die therapeutische Arbeit verdeutlichen. Zusammenfassend wird die Entstehung und die Auswirkungen der Störung beschrieben und auch die Comorbiditäten wie Zwang und Depression werden beleuchtet.
Schlüsselwörter: Essstörungen, Grundmotivationen, PEA
Gefühle töten nicht
Caroline Balogh
In diesem Beitrag wird ein phänomenologischer Weg beschrieben, mit dem schmerzvolle Gefühle aus der Erstarrung gelöst und ins Fließen gebracht werden können. Solches „emotionales Auftauen“ ermöglicht dann die zugrunde liegende Pathologie bearbeiten zu können. Durch solche Arbeit wird deutlich, dass die Person − das personale Eigene − erst im Verknüpfen von Erlebtem mit Erleben wieder sichtbar wird.
Schlüsselwörter: Essstörung, Falldarstellung, Phänomenologie, Emotion
Existenzanalytische Gruppenarbeit zur Persönlichkeitsentwicklung und Selbsthilfe bei Essstörungen
Sabine Fleisch
Der folgende Beitrag ist inhaltlich in zwei Abschnitte untergliedert, welche thematisch aufeinander aufbauen. Der erste Teil des Artikels gibt einen theoretischen Überblick über existentielle Ursachen von Essstörungen und dient als Grundlage zum besseren Problem- und Ursachenverständnis dieser Erkrankungen. Bezug nehmend darauf, beschäftigt sich der zweite, praktische Teil des Aufsatzes mit der Durchführung einer existenzanalytischen Gruppenarbeit zur Persönlichkeitsentwicklung und Selbsthilfe bei Essstörungen.
Schlüsselwörter: Essstörungen, Gruppenarbeit, Grundmotivationen
Was ist “Borderline”?
Lucio Demetrio Ragazzo, Alfried Längle
Die nosologische Bestimmung des Borderline-Syndroms ist auf Grund der jeweiligen klassifikatorischen Perspektive in mehrfacher Hinsicht problematisch. Es werden daher die wichtigsten Beschreibungsformen genannt, die strukturellen, kategorialen, dimensionalen und ätiopathogenetischen, und ihre Gesichtspunkte werden kritisch beleuchtet. Weiters werden Grundzüge der psychoanalytischen, kognitiv-verhaltenstherapeutischen und existenzanalytischen Theorien beschrieben. Abschließend werden Selbstschilderungen von Borderline Patienten bzw. ihrer Partner wiedergegeben.
Schlüsselwörter: Pathologie, Borderline-Störung, Klassifikation, Psychopathogenese, Existenzanalyse
Störungen des Selbst bei Kindern im Vorschulalter
Vita Cholmogorowa
Dieser Artikel befasst sich mit Ursachen der Konfliktaffinität bei Vorschulkindern und liefert zunächst eine phänomenologische Beschreibung von konfliktbelasteten interpersonellen Beziehungen von Vorschulkindern (Aggressivität, Empfindlichkeit, Schüchternheit, demonstratives Verhalten). In der Folge wird ein Zusammenhang zwischen den Erziehungsmethoden der Eltern (Werte in der Erziehung, Erziehungsstil) und den einzelnen Formen von konfliktbelasteten Beziehungen hergestellt.
Schüsselwörter: Person, Beziehung, Dialog, Störungen des Selbst, empir. Forschung
Analyse des Phänomens des Verzeihens
Phänomenologischer Zugang zur Forschung des Erlebens: Einzelfalldarstellung und Methode der empirisch- phänomenologischen Forschung
Svetlana W. Krivtsova
Eingangs werden verschiedene Fälle von Kränkungen und ihre existenzanalytische Therapie geschildert. Die Analyse der Fälle enthält wichtige Aspekte des Phänomens Verzeihen. Diese werden mit der Sichtweise von A. Längle verglichen und anschließend mit anderen Forschungsansätzen parallelisiert. Dazu werden auch Ergebnisse aus den phänomenologischen Interviews amerikanischer Psychologen wie Row et al. und Fow beschrieben.
Schlüsselwörter: empirisch-phänomenologische Forschung, Falldarstellung, Phänomenologie, Verzeihen
Heute leben. Existenz im Horizont der Zeit
Helmut Dorra
Menschliches Sein ist an die Zeit gebunden, die sich als vergangene, gegenwärtige und zukünftige in unserem Erleben abbildet.
Wir leben im Laufe der Zeit im Werden und im Wandel und kommen nicht umhin, uns in allen Belangen unseres Alltagslebens zeitlich zu verhalten. Die Zeit ist das Medium unseres Daseins, in dem wir unser Wesen entfalten, das in allen Bezügen zur Welt und zur Zeit konkrete Gestalt gewinnt.
Im Horizont der Zeit werden wir mit der existentiellen Sinnfrage nach dem Wozu und Wohin konfrontiert, die im Bewusstsein der Endlichkeit eine oftmals Weichen stellende und entschiedene Antwort abverlangt.
Weil wir aber unser Leben nur in der Gegenwart gestalten können, sind wir herausgefordert, das jeweils Wesentliche und Werthafte wahrzunehmen, zu wählen und zu verwirklichen.
Nur heute können wir mit unserem gelebten Leben Antwort geben auf die Frage, wofür wir uns einsetzen und da sein wollen.
Schlüsselwörter: Gelebte Zeit, Beschleunigung, Langeweile, Angst, Endlichkeit, Kairos, Gegenwart, Existenz
„Ich schaffe das – mit Ruhe und Gelassenheit“
Abiturvorbereitung zum Thema ‚Prüfungsangst’
Walter Schiffer
Viele Schülerinnen und Schüler leiden in schulischen Kontexten unter Ängsten. Besonders bedrohlich empfinden es einige, wenn die Zeit der Abiturprüfungen naht. Sich in einer Gruppe Gleichgesinnter mit Hilfe verschiedener Methoden über das Thema „Prüfungsangst“ auszutauschen, bringt Entlastung und zeigt Problemlösungsmöglichkeiten auf.
Der Artikel skizziert den Verlauf einer Seminarreihe (sechs Treffen) zur Abiturprüfungsvorbereitung, in der sich die Schülerinnen und Schüler im Umgang mit ihren Ängsten besser verstehen lernen.
Schlüsselwörter: (Prüfungs-) Angst, adjuvante Methoden, Themenzentrierte Interaktion