Existenzanalyse 2/2022

Ausgabe 2/2022

DIE EXISTENZIELLE WIRKUNG IN THERAPIE UND BERATUNG

DIE UR-INTENTIONALITÄT ALS GRUNDLAGE FÜR DAS ÜBERSPRUNGEN DES „ZÜNDENDEN FUNKENS“ IM GESPRÄCH

ALFRIED LÄNGLE

Die Wichtigkeit der therapeutischen Beziehung als Grundlage erfolgreicher Therapie ist hinlänglich belegt. Doch warum kann die therapeutische Beziehung überhaupt eine solche Wirkung haben? Wie wirkt Beziehung? In der Existenzanalyse (EA) stellt sich zentral die Frage, welche Rolle das Personsein im Beziehungsgeschehen spielt. Dabei wird deutlich, dass der Beziehungsbegriff zur Belegung der therapeutischen Wirkung nicht hinreicht, sondern der Ergänzung durch den Begegnungsbegriff bedarf. Was aber ist der spezifische Beitrag der Begegnung, wie kommt es innerhalb der Begegnung dazu, dass so eine besondere Energie, eben „ein Funke“ im Gespräch überspringt? Es wird versucht zu zeigen, dass dieses zündende Berührtwerden mit der ursprünglichen Verbundenheit und Ausrichtung des Menschen auf Welt zu tun hat, die als Ur-Intentionalität in aller Motivation als Kern enthalten ist. Wird diese angesprochen und erreicht, „zündet“ das Leben im Menschen.

In dieser Arbeit soll ein Blick auf tiefenwirksame Kräfte und das tief Bewegende in der Therapie und Beratung geworfen werden, insbesondere auf die Entstehung des existenziell berührenden Moments, also der existenziellen Wirkung. Was steuern die Therapeut:innen, was die Patient:innen und was das Miteinander zu dem bewegenden Geschehen der Personierung in den Patient:innen bei? Das Konzept der Ur-Intentionalität hinter den Grundmotivationen wird dargelegt. Diese grundlegenden Überlegungen werden anhand von praktischen Therapie-Situationen veranschaulicht, wo es zu einem Überspringen eben dieses „zündenden Funkens“ kam.
Stichworte: Therapeutische Beziehung, Begegnung, Dialog, Ur-Intentionalität, existenzieller Moment, anthropologisches Modell

VERMINDERT EMPATHIE DAS KRANKHEITSRISIKO?

WER ANDEREN GUTES TUT, LEBT GESÜNDER

JOACHIM BAUER

Meistens treten sie unerwartet ins Leben eines Menschen, die großen Volkskrankheiten unserer Zeit: Herzinfarkt, Krebsleiden oder Demenzerkrankungen. Tatsächlich haben sie in den meisten Fällen aber eine jahrelange unerkannte Vorgeschichte: „Unter dem Radar fliegende“, schleichend ablaufende Entzündungen. Nun zeigen neue Studien, dass eine menschenfreundliche, empathische innere Grundeinstellung Gene so beeinflussen kann, dass sich dieses heimliche Entzündungsgeschehen beruhigt.
Schlüsselwörter: Social Genomics, CTRA-Response, Risikogene, Empathie, Eudaimonia, Genaktivität

FUNKSTILLE UND FUNKENFLUG

BEGEGNUNG IN DER PAARBEZIEHUNG (WIEDER) ERMÖGLICHEN

SUSANNE POINTNER

Während der Coronakrise wurden die Lockdowns zum Brennglas für Beziehungen. Das ins Heim verlagerte Streben nach Glück, oft unter sehr belastenden Bedingungen, führte zu Entwicklungsschüben, aber auch zu schmerzhaften Trennungen. Um den Schmerz über den Verlust an Intimität zu unterdrücken, suchen PartnerInnen in Krisen oft Fluchtwege aus der Beziehung – destruktive Konfliktlösestrategien, Rückzug, Überregulation, Sucht, Affären. Meist suchen KlientInnen dann eher Hilfe im Einzel- als im Paarsetting. Die Betroffenen ahnen meist selbst, was sie – mehr noch der Partner/die Partnerin – verändern müssten, haben aber nicht mehr die Motivation und Energie dazu. Existenzanalytische Psychotherapie und Beratung zielen nicht auf Lösungen ab, sondern schaffen Raum für Erkenntnis, Begegnung, Haltungsveränderung und gemeinsame Entwicklung. Dabei ist es wichtig, das Fremdverständnis und die Dialogfähigkeit des Klienten/der Klientin nach innen und nach außen zu fördern und die Begegnungsfähigkeit zu stärken.

Im Artikel wird anhand von Filmausschnitten und einer fiktiven Fallanalyse die existenzanalytische Begleitung eines Klienten in einer Beziehungskrise dargestellt.
SCHLÜSSELWÖRTER: Paarbeziehung, Liebe, Begegnung, Konflikt, Personale Existenzanalyse

BIST DU DA(S)?

VON DER UNSICHERHEIT IM GEWAHRWERDEN DES DU

ERIKA LUGINBÜHL-SCHWAB

Als geistige Wesen, als Person, suchen wir Menschen den offenen, dialogischen Austausch mit dem Du des Gegenübers, wo der Funke überspringt, und Begegnung geschehen kann. Begegnung ist der Resonanzraum, in welchem wir des Eigenen gewahr werden können, und zudem ist sie auch der Nährboden für inneres Wachstum. In beraterischen und therapeutischen Gesprächen intendieren wir die Begegnung mit dem Du, denn das Du, die Person, ist Quelle der Authentizität und Ressource im Umgang mit Belastungen. Was aber erleben wir im Austausch mit unseren Patientinnen und Patienten? Merken wir, ob wir mit dem Du in Begegnung sind? Und wie gehen wir damit um, wenn wir versagen und nicht merken, dass uns das Du verschlossen bleibt?
Schlüsselwörter: Begegnung, Dialog, Suizid, Versagen als Therapeut:in

EXISTENZIELLE KOMMUNIKATION

MERKMALE PHÄNOMENOLOGISCHER GESPRÄCHSFÜHRUNG

CHRISTOPH KOLBE

Psychotherapeutische und beraterische Gespräche haben zum Ziel, dass Menschen sich verstehen und Erkenntnisse gewinnen, die sie dann in Handlungen oder Haltungen umsetzen. Zu einer Erkenntnis gelangen wir aber nur, wenn uns etwas unmittelbar angeht, es bedeutungsvoll für uns ist, weil es existenzielle Relevanz hat. Wie kann es also gelingen, Gespräche im Horizont dieser Relevanz zu führen?
Im Artikel werden die wesentlichen Bedingungen für existenzielle Kommunikation dargelegt: das Erleben, das Bewegende und der Bedeutungsgehalt. Es werden Schritte beschrieben, wie Wesentliches in einem phänomenologischen Prozess durch den Gesprächsführenden erfasst werden kann. Und es wird gezeigt, wie dieses durch Anfragen erschlossen werden kann bei gleichzeitiger Wahrung einer Haltung der Offenheit, ohne Deutung oder Suggestion – eine Gesprächsführung, die Begegnung zwischen Menschen und am Thema stiftet, um Erkenntnis zu ermöglichen.
Schlüsselwörter: Kommunikation, Dialog, Phänomenologie, Phänomenologische Gesprächsführung, Begegnung, Erkenntnis

RELIGIOSITÄT UND SPIRITUALITÄT IN DER THERAPIE – VOM EXISTENZIELLEN ZUM SPIRITUELL-RELIGIÖSEN MOMENT IN DER THERAPEUTISCHEN BEZIEHUNG

RENÉ HEFTI

Spiritualität kann als „Tiefendimension“ in der Psychotherapie verstanden werden, welche den Menschen in seiner Ganzheit und seinen existenziellen Bezügen erfasst. Religiosität greift über die existenzielle Dimension hinaus und nimmt Bezug auf Transzendenz. Wie wirken sich diese beiden Dimensionen auf die therapeutische Beziehung, den Therapieprozess und letztendlich auf das Therapieergebnis aus? Kommt es hier zu einer Akzentverschiebung?

Therapieansätze, die Religiosität und Spiritualität integrieren, finden zunehmend Anwendung und zeigen in Studien gute Ergebnisse. Eine eigene Untersuchung verdeutlicht die Bedeutung religiöser und spiritueller Aspekte für die therapeutische Beziehung und den Therapieprozess. Anhand eines Patientenbeispiels und einer davon abgeleiteten phänomenologischen Analyse (Reflexion) werden die qualitativen Veränderungen in der therapeutischen Beziehung herausgearbeitet und Konsequenzen für das therapeutische Arbeiten mit religiösen/spirituellen Patientinnen und Patienten dargestellt.
Schlüsselwörter: Religiosität, Spiritualität, therapeutische Beziehung, Resonanz

DIFFERNZIERUNG IN DER BEZIEHUNG

ABGRENZUNG DES EIGENEN VOM ANDEREN IN DER PAARBEZIEHUNG

EVA MARIA BERGER

Die anfänglich berauschende Beziehung von Frischverliebten macht zutiefst glücklich. So schön dieser Zustand auch empfunden wird, er ist nicht von bleibender Dauer. Die eigenen Bedürfnisse, Wertvorstellungen und Wünsche wollen spätestens nach ein paar Jahren vermehrt erkannt, respektiert und beachtet werden. Das Aufeinanderprallen des sich jeweils zeigenden Eigenen kann die Partner:innen überfordern und scheint sich oft nur in der Auflösung der Beziehung Bahn brechen zu können. Als Paartherapeut:innen suchen wir mit den Paaren Antworten auf die Frage, wie es gelingen kann, Differenzierung innerhalb der Beziehung zu leben. Wir unterstützten sie in der Kunst, in einer wertschätzenden verbindenden Beziehung, das Eigene und das Unterschiedliche gleichermaßen da sein zu lassen.
Schlüsselwörter: Nähe, Differenzierung, Beziehung, Paartherapie

ALLES IM ZEICHEN DER RINGE

BEZEIHUNG ALS LEISTUNGSFAKTOR FÜR NACHWUCHSLEISTUNGSSPORTLER

ANDREA ENGLEDER

Die Lebenswelt von jugendlichen Leistungssportlern ist nicht mit jener von Teenagern der gleichen Altersgruppe zu vergleichen. Der Alltag ist geprägt von Disziplin, Trainingsplanung und Vorbereitung auf Wettkämpfe, Reisen, Erfolgserlebnissen, Enttäuschungen und auch Einsamkeit. Insbesondere dann, wenn Jugendliche viele hunderte Kilometer von zuhause in Sportleistungszentren leben und trainieren. Welche Beziehungen geben in solch einer Lebensrealität Halt? Im folgenden Beitrag wird besonderes Augenmerk auf das Beziehungsgefüge im Nachwuchsleistungssport gelegt, mit all seinen Ressourcen und Herausforderungen. Wie kann eine psychologische Unterstützung unter existenzanalytischer Perspektive gelingen, um im Moment des höchsten sportlichen Erfolgs oder Misserfolgs in Beziehung zu sich und dem wichtigsten Umfeld zu bleiben.
Schlüsselwörter: Leistungssport, Beziehung, psychische Gesundheit, mental health, performance psychology

WAS FUNKT, WENN WIR OFFEN SIND UND UNS EINLASSEN?

ESTHER KOHL

Der Artikel zeigt, wie es in einem Workshop durch gezielte Übungen des Darstellenden Spiels möglich gemacht wird, die doppelte dialogische Offenheit der Existenzanalyse praktisch zu erleben und theoretisch zu versprachlichen. Für die Teilnehmenden wird durch gezielte Anleitung von Bewegung nach Musik ein Raum geschaffen, der personale Begegnung ermöglicht. Ob in diesem entstandenen Resonanzraum tatsächlich auch ein Funken möglich wird, liegt dann ganz an der jeweiligen Person der Teilnehmenden. Ihre beidseitige phänomenologische Offenheit zu ihrer Innenwelt und zur geschaffenen Situation in der Außenwelt ist Grundlage und Ziel dieses Workshops. Ihr Erleben in diesem responsiven Prozess ist nicht vorhersehbar. Gemeinsam wird dem Erleben nachgespürt und es im Gespräch mit den anderen geteilt, sodass sie am Erleben teilhaben und mitschwingen können. Das ermöglicht Nähe und Begegnung.
Schlüsselwörter: Existenzielle Pädagogik, Darstellendes Spiel, Begegnung, Resonanz, Doppelte Dialogische Offenheit

BEGEGNUNGSKULTER IM UNTERNEHMEN

ERFAHRUNGEN IN DER ENTWICKLUNG VON WERTEHALTUNGEN DER MITARBEITER:INNEN

RAINER KINAST

Damit einer Person etwas zum existenziellen Wert wird, braucht es den inneren und den äußeren Dialog. Für Führungskräfte (sie sind keine Psychotherapeut:innen ihrer Mitarbeiter:innen) stellt sich die Frage, wie diese Dialoge für den Führungsalltag übersetzt und Werte im betrieblichen Kontext vermittelt werden können. Nach einer kurzen theoretischen Skizze, was unter Begegnungskultur im Kontrast zu einer Atmosphäre der sozialen Kälte zu verstehen ist und wie Werte vermittelt werden können, wird ein Werteprozess von neun Monaten in einem Pflegehaus beschrieben, durch den in besonders herausfordernden Zeiten der Pandemie die Begegnungskultur erhalten und gestärkt wurde.
Schlüsselwörter: Wertehaltungen, betrieblicher Werteprozess, Begegnungskultur

(SPIRITUELLE) GRUNDHALTUNGEN
EINER FÜHRUNGS-PERSON ZUR ENTWICKLUNG
EINER „BEGEGNUNGSKULTER“

JÜRGEN A. BAUMANN

Der Beitrag vertieft in einem ersten Schritt die ethisch-spirituelle Grundhaltung einer Führungs-Person, indem auf das Verständnis von Spiritualität, Spiritual Leadership und auf Voraussetzungen und Grundhaltungen eingegangen wird. Im zweiten Schritt geht es darum, die praktisch-pragmatischen und ethisch-spirituellen Ansätze herauszuarbeiten, die in der Führungspraxis und im Alltag möglich sind. Diese werden entlang der Grundmotivationen entfaltet und rudimentär veranschaulicht. Es zeigt sich, dass eine gelungene Selbst-Führung bei vielen Ansätzen auch die Basis für die Führung anderer und den Aufbau einer gewünschten „Begegnungskultur“ darstellt.
Schüsselwörter: Spiritualität, Kultur, Haltung, Führung bzw. (Spiritual) Leadership, Grundmotivationen, Praxis

EXISTENZANALYTISCHE UND FEMINISMUS IM DIALOG –
DER FUNKE DES EMPOWERMENT

LYDIA MÜLLER

Ausgehend von der Überlegung, wie sich Psychotherapie auf das gesellschaftliche Zusammenleben auswirkt, widmet sich dieser Artikel einer Analyse von Selbstbestimmung und Empowerment aus existenzanalytischer und feministischer Sicht. In dialogischer Bezugnahme auf die jeweils andere Position werden Berührungspunkte und Synergien für das therapeutische Handeln herausgearbeitet.
Schlüsselwörter: Selbstbestimmung, Feminismus, Existenzanalytisches Menschenbild, phänomenologische Grundhaltung, Empowerment

„WENN´S FUNKT“ -FUNKENFLUG BEI LUKAS

…UND WAS WIR DAVON LERNEN KÖNNEN

RUPERT DINHOBL

In diesem Artikel werden zwei Funkenflüge des Lukasevangeliums beschrieben: der Funkenflug in der Auseinandersetzung Marias mit dem Engel (Lukas 1, 26-38) und der Funkenflug in der Begegnung Marias mit Elisabeth (Lukas 1, 39-45). War der erste eher ein traumatischer Einbruch in das Leben Marias, zeigt sich der zweite als heilende Begegnung. Es wird versucht, die Methode der Personalen Existenzanalyse nach A. Längle in diese Texte einzuschreiben und zu ergründen, was wir als Existenzanalytiker:innen daraus lernen können.
Schlüsselwörter: Spiritualität, Maria, Begegnung, Personale Existenzanalyse

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